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Full text of "Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewusstseins"

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE 

VORTRAGE 

VORTRAGE VOR MITGLIEDERN 
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT 



RUDOLF STEINER 

Der Christus-Impuls 
und die Entwickelung des Ich-Bewufitseins 

Sieben Vortrage, gehalten in Berlin 
zwischen dem 25. Oktober 1909 und 8. Mai 1910 



1982 

RUDOLF STEINER VERLAG 
DORN ACH/SCHWEIZ 



Nach einer vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschrift 
herausgegeben von der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung 

Die Herausgabe dieser Auflage besorgte Hella Wiesberger 



1. Auflage (Zyklus 17), Berlin 1921 

2. Auflage, Dornach 1933 

3. Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1961 

4., neu durchgesehene Auflage 
Gesamtausgabe Dornach 1982 



Bibliographie-Nr. 116 

Siegelzeichnung auf dem Einband nach einem Entwurf von Rudolf Steiner 

Alle Rechte bei Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/ Schweiz 
© 1982 by Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz 
Printed in Germany by Greiserdruck, Rastatt 

ISBN 3-7274-1160-0 



2,u den Veroffentlichungen 
am dem Vortragswerk von Rudolf Steiner 



Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissen- 
schaft bilden die von Rudolf Steiner (1861 - 1925) geschriebenen und 
veroffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis 
1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, sowohl offentlich wie auch for 
die Mitglieder der Theosophischen, spater Anthroposophischen 
Gesellschaft. Er selbst wollte urspriinglich, dafi seine durchwegs 
frei gehaltenen Vortrage nicht schriftlich festgehalten wiirden, da sie 
als «mundliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht 
waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige und fehlerhafte 
Horernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich 
veranlafit, das Nachschreiben zu regeln. Mit dieser Aufgabe betraute 
er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Steno- 
graphierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die fur die 
Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner 
aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschriften selbst 
korrigieren konnte, mufi gegeniiber alien Vortragsveroffentlichun- 
gen sein Vorbehalt beriicksichtigt werden: «Es wird eben nur hinge- 
nommen werden mussen, dafi in den von mir nicht nachgesehenen 
Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.» 

Uber das Verhaltnis der Mitgliedervortrage, welche zunachst nur 
als interne Manuskriptdrucke zuganglich waren, zu seinen offent- 
lichen Schriften aufiert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbio- 
graphie «Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wort- 
laut ist am Schlufi dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte 
gilt gleichermafien auch fur die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, 
welche sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geistes- 
wissenschaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten. 

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde gemafi 
ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamt- 
ausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil 
dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nahere An- 
gaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise. 



INHALT 



Erster Vortrag, Berlin, 25. Oktober 1909 

Die Sphare der Bodhisattvas 

Die Bodhisattvas als die grofien Lehrer der Menschheit bei ihrem Fort- 
schreiten innerhalb der Kulturepochen von Lebensform zu Lebensform. 
Die Verwendung der menschlichen Organisation bei ihrem Durchgang 
durch die einzelnen Zyklen der Kuiturentwickelung. Die Vorbereitung 
der Bewufitseinsseele einerseits durqh Buddhas Lehre von Mitleid und Lie- 
be, andererseits durch die musikalische Kultur des Bodhisattva Apollo, der 
in Orpheus zum Buddha wurde. Christus und die zwolf Bodhisattvas, von 
denen sechs den Christus-Impuls vorbereiten, die anderen sechs ausbauen, 
was der Christus der Erdenentwickelung gibt. 

Zweiter Vortrag, 22. Dezember 1909 . . 

Das Karmagesetz in bezug auf Einzelheiten des Lebens 

Das Karmagesetz von den geistigen Zusammenhangen zwischen Vergan- 
genhek, Gegenwart und Zukunft und im Leben zwischen Geburt und 
Tod. Karmische Wirkungen bei Bemfswechsel. Auswirkungen der Ju- 
genderlebnisse im Alter. Die Mission des Zornes und der Andacht. Die 
Berucksichtigung des Karmagesetzes in der Erziehung. Karmische Wir- 
kungen von Erdenleben zu Erdenleben. Wesen von Schmerz und Krank- 
heit. Die karmische Bedeutung der Starkung der Heilkrafte bei der 
Bekampfung von Krankheit. Die Erarbeitung von Einzelwahrheiten der 
Geistesforschung, zum Beispiel des Karmagesetzes, starkt den Wesenskern 
des Menschen und gibt ihm Lebenskraft und Sicherheit. 

Dritter Vortrag, 2. Februar 1910 

Das Eintreten des Christus in die Menschheitsentwickelung 

Der Einzug des Ich in die menschliche Wesenheit in der lemurischen Zeit. 
Der luziferische Einflufi und seine Folgen: Egoismus (Astralleib), Irrtum 
und Luge (Atherleib), Krankheit und Tod (physischer Leib). Ihre Uber- 
windung und Umwandlung durch den Christus-Impuls. Der Herabstieg in 
die Materie durch die verschiedenen Zeitalter (das goldene, das silberne, 
eherne, finstere Zeitalter). Die Vorbereitung des Christus-Impulses durch 
die Jahve-Religion. Das Gesetz des Moses. Die Zehn Gebote. Das Vorbild 
und die Kraft Christi. Die Seligpreisungen der Bergpredigt. Die Wirkung 
des Christus-Impulses auf die neun Wesensglieder des Menschen. Neue 
Fahigkeiten, die nach dem Ablauf des Kali Yuga auftreten, ermoglichen 
die Aufnahme neuer Beziehungen zum Christus. 



Vierter Vortrag, 8 . Februar 1910 79 

Die Bergpredigt 

Die Notwendigkeit der physischen Verkorperung des Christus. Ihre Vor- 
bereitung als ein Teil der Mission des althebraischen Volkes. Der salomo- 
nische Jesus und die Anlage zur Vollkommenheit seiner siebengliedrigen 
Menschennatur schon bei Salomo. Die sieben Namen des Salomo als Be- 
zeichnungen seiner sieben Hiillen. Die einzelnen Seligpreisungen der Berg- 
predigt schildern die Wirksamkeit des Christus-Impulses innerhalb der 
neungliedrigen Wesenheit des Menschen. Das Ende des Kali Yuga im Jahre 
1899 und der Beginn eines neuen atherischen Hellsehens. Die Geistes- 
wissenschaft als Vorbereitung, um Christus im Atherleibe schauen zu 
konnen. Materialistischer Messiasglaube. Falsche Messiasse (zum Beispiel 
Sabbatai Zewi). 



Funfter Vortrag, 9. Marz 1910 101 

Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos 

Zweiheiten (Polaritaten) und hohere Einheiten. Nordliche und siidliche 
Initiation, germanische und agyptische Mysterien fliefien zusammen in der 
christlichen Initiation als der hoheren Einheit. Die Trennung der Einheit 
der Geschlechter in der lemurischen Zeit und eine neue Einheit in ferner 
Zukunft. Der Gegensatz von Sonne und Erde im Menschen als Gegensatz 
von Kopf und Gliedmafien. Die Entwickelung der menschlichen physi- 
schen Gestalt und ihre Verzeichnung im Mannlichen und Weiblichen. 
Mannliches und Weibliches verhalten sich im Menschen wie Lunarisches 
und Kometarisches im Kosmos. Die Bedeutung der Kometen. Der Halley'- 
sche Komet. Er gibt den Impuls, tiefer in den Materialismus hineinzufuh- 
ren. Der Ablauf des Kali Yuga, das neue Atherhellsehen und das Erschei- 
nen des Christus im Atherischen. Das Marchenland Schamballa der orien- 
talischen Philosophic 



Sechster Vortrag, 2. Mai 1910 122 

Die Entstehung des Gewissens 

Die Entwickelung menschlicher Seelenfahigkeiten durch die aufeinander- 
folgenden Inkarnationen. Entstehung des Gewissens zur Zeit, da der Chri- 
stus-Impuls in die Welt hereintritt. Die Ausbildung der Empfindungsseele 
(agyptische Kultur), der Verstandesseele (griechisch-lateinische Kultur), 
der Bewufkseinsseele in der funften nachatlantischen Periode. Wahrend 
der agyptischen Kultur entwickelt sich in Europa das Ich, aber ohne 
besonders hohe Kultur; in Agypten und Chaldaa ein reiches Wissen iiber 
die geistige Welt, doch fast gar kein Ich-Bewufitsein; in der griechisch-latei- 



nischen Kultur halt sich beides die Waage. In Asien wird die Erscheinung 
des Christus vorbereitet, in Europa das Christus-Verstandnis. Aus der 
Durchdringung der Empfindungsseele mit dem Ich-Gefiihl bildet sich als 
Seelenkraft das Gewissen. Im Osten taucht in geistig-seelischer Form die 
Liebe auf, im Westen dringt aus den Tiefen der Seele das Gewissen hervor. 



Siebenter Vortrag, 8. Mai 1910 143 

Riickschau und Vorschau. Das neue Christus-Ereignis. Die 
Weiterbildung des Gewissens 

Zum Todestag von Blavatsky, der Begriinderin der theosophischen Bewe- 
gung. Letztere als geschichtliche Notwendigkeit, um neues geistiges Leben 
in die Menschheitsentwickelung einstromen zu lassen. Ahnliche Impulse 
gingen aus von den Rishis, Zarathustra und Moses. Der Christus-Impuls. 
Die Leugnung des historischen Jesus (A. Drews «Christus-Mythe»). Not- 
wendigkeit, den historischen Jesus auf geistige Art zu begreifen durch eine 
Erneuerung des Ereignisses von Damaskus. Blavatskys Anregungen mus- 
sen weitergebildet werden. Ihr waren die alt- und neutestamentlichen 
Offenbarungen verschlossen. Die theosophische Bewegung mufi das Chri- 
stus-Ereignis begreifen. Weiterbildung menschlicher Fahigkeiten im Fort- 
schreiten der Menschheit: das Gewissen wird zur Fahigkeit werden, ein 
inneres Gegenbild zu schauen von getanen Taten, von deren karmischer 
Erfiillung, die einmal eintreten wird, Paulinisches Christentum. Erkennt- 
nistheorie im Sinne des Paulus. 



Hinweise 167 

Rudolf Steiner uber die Vort ragsnachschriften 171 

Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe 1 73 



ERSTER VORTRAG 



Berlin, 25. Oktober 1909 



Heute, gelegentlich der Generalversammlung, obliegt es mir, iiber 
eine hohe Angelegenheit der Menschheit zu sprechen. Nachdem wir 
uns sonst in den Vortragen iiber Anthroposophie bemiihen, ein 
mehr auf dem physischen Plan wurzelndes Fundament zu legen, 
darf wohl heute von hoheren Welten Angehorendem gesprochen 
werden. Lassen Sie mich als Vorbemerkung noch einmal erwahnen, 
dafi wir uns gewohnen sollen auch iiber die hoheren Angelegenhei- 
ten der Menschheit so zu sprechen, daft wir nicht zufrieden sind mit 
der einseitigen Angabe der Daten aus der hoheren Welt, so dafi etwa 
im allgemeinen definiert wird der Begriff der Bodhisattvas, von de- 
nen heute die Rede sein soil, und dann angegeben wird, welche Mis- 
sion sie haben, sondern wir sollen uns auch hier angewohnen, aus 
dem Abstrakten in das Konkrete uberzugehen. Versuchen wollen 
wir, auch solche hohen Angelegenheiten wie die der Bodhisattvas 
mit den Ideen und Empfindungen zu durchdringen, die uns eigen 
sind aus einer griindlichen und liebevollen Betrachtung des Lebens, 
wodurch wir die Tatsachen nicht nur als eine Mitteilung empfangen, 
sondern sie auch bis zu einem gewissen Grade verstehen konnen. 
Deshalb mochte ich auch in dieser Betrachtung von unten aufsteigen 
und mir zum Ziele setzen, mehr als in einer schematischen Darstel- 
lung den Begriff des Bodhisattva und seinen Wandelgang durch die 
Welt ein wenig zu charakterisieren. 

Was ein Bodhisattva ist, konnen wir eigentlich gar nicht verstehen, 
wenn wir uns nicht etwas vertiefen in den Entwickelungsgang der 
Menschheit und manches vor uns hintreten lassen, was wir in den 
aufeinanderfolgenden Jahren gehort haben. Nehmen Sie nur einmal 
die Tatsache, wie die Menschheit weiterschreitet. Nach der grofien 
atlantischen Katastrophe hat die Menschheit eine Periode der alten 
indischen Kultur durchgemacht, wo die grofien Rishis die Lehrer der 
Menschheit waren, dann eine Periode der urpersischen Kultur, eine 
Periode der agyptisch-chaldaischen Kultur, dann die griechisch-latei- 



nische Kulturperiode, bis hinauf in unsere Zeit, welche die fiinfte 
Kulturperiode der nachatlantischen Zeit ist. Diese Kulturepochen 
haben dadurch einen Sinn, dafi sie ein Weiterschreiten der Mensch- 
heit von Lebensform zu Lebensform bedeuten. 

Es ist ja so, daft nicht nur dasjenige fortschreitet, was man gewohn- 
lich in der aufieren Geschichte schildert, sondern wenn man langere 
Zeitraume ins Auge fafk, wandeln und erneuern sich auch alle Emp- 
findungen und Gefuhle, alle Begriffe und Ideen im Verlaufe der 
Menschheitsentwickelung. Was wiirde es fiir einen Sinn haben, die 
Idee der Wiederverkorperung oder Reinkarnation zu vertreten, 
wenn man nicht wufite, daft das so ist in der Welt? Wozu sollte ei- 
gentlich unsere Seele immer wieder in einen irdischen Leib eintre- 
ten, wenn sie nicht jedesmal Neues nicht nur zu erleben, sondern 
auch zu empfinden und zu fuhlen hatte? Dadurch, dafi auch die Fa- 
higkeiten der Menschen, auch die Intimitaten des Seelenlebens im- 
mer wieder neue werden, sich verandern, dadurch ist es moglich, 
dafi unsere Seele nicht nur wie auf einer Treppe hinaufsteigt von Stu- 
fe zu Stufe, sondern jedesmal ist auch fur sie Gelegenheit vorhanden, 
von auften, durch die Verwandlung der Lebensverhaltnisse unserer 
Erde, Neues in sich aufzunehmen. Nicht blofi durch ihre Verfehlun- 
gen, durch ihre karmischen Siinden wird unsere Seele von Inkarna- 
tion zu Inkarnation gefiihrt; sondern weil unsere Erde in alien ihren 
Lebensverhaltnissen sich andert, ist es moglich, dafi unsere Seele im- 
mer wieder Neues auch von auften aufnehmen kann. Daher schreitet 
die Seele vorwarts von Inkarnation zu Inkarnation, aber auch von 
Kulturzyklus zu Kulturzyklus. 

Nun wiirde aber diese Seele nicht vorwartsschreiten, sich nicht 
entwickeln konnen, wenn nicht jene Wesenheiten, die eine hohere 
Entwickelung bereits erlangt haben und also in irgendeinem Grade 
iiber die Durchschnittsentwickelung der Menschheit hinausgehen, 
dafiir sorgen konnten, dafi immer wieder Neues einfliefien kann in 
unsere Erdenkultur, mit anderen Worten: wenn nicht grofie Lehrer 
wirkten, die durch ihre hohere Entwickelung aus den hoheren Wel- 
ten die Erlebnisse und Erfahrungen aufnehmen und hinuntertragen 
konnen auf den Schauplatz des irdischen Kulturlebens. Immer wa- 



ren in der Zeit der Erdenentwickelung - und wir reden heute nur 
von der nachatlantischen Entwickelung - solche Wesenheiten vor- 
handen, die die Lehrer der anderen Menschheit waren, denen hohere 
Empfindungsquellen und Willensmoglichkeiten geoffhet sind. Wir 
konnen das Wesen solcher Lehrer der Menschheit nur verstehen, 
wenn wir uns klarmachen, wie diese Menschheit selber vorschreitet. 

Sie haben gestern und heute in zwei ausgezeichneten Vortragen 
unseren lieben Dr. Unger liber das Ich und iiber das Ich in seinem 
Verhaltnis zum Nicht-Ich, in philosophischer und erkenntnistheore- 
tischer Weise sprechen gehort. Glauben Sie nun, dafi Sie dasjenige, 
was Sie gestern und heute durch Menschenmund, aus Menschenden- 
ken heraus gehort haben, in dieser Form hatten horen konnen vor 
etwa 2500 Jahren? Nirgends auf unserer Erde ware eine Moglichkeit 
gewesen, in der Form des reinen Denkens zum Beispiel iiber das 
«Ich» zu sprechen. Nehmen wir an, es hatte sich irgendeine Indivi- 
dualist in unser Erdendasein verkorpern wollen vor 2500 Jahren, 
welche sich vor ihrer Verkorperung vorgenommen hatte, in dieser 
eigenartigen Form, wie Sie das gehort haben, iiber das Ich zu spre- 
chen, sie hatte es nicht tun konnen. Denn derjenige verkennt den 
wirklichen Fortgang und die Verwandlungen innerhalb der Kul- 
turentwickelung, der glauben wiirde, dafi so etwas vor 2500 Jahren 
in dieser Form von Menschenmund hatte gesagt werden konnen. 
Denn um das zu ermoglichen, dazu gehort nicht allein eine Indivi- 
dualist, die sich vornimmt, in einen menschlichen Leib sich zu 
verkorpern, sondern dazu gehort noch, dafi unsere Erde in ihrer 
Entwickelung einen menschlichen Leib hergibt, der ein so einge- 
richtetes Gehirn hat, dafi die Wahrheiten, die in den hoheren Wel- 
ten in ganz anderer Art vorhanden sind, sich innerhalb dieses Ge- 
hirnes zu dem formen konnen, was wir «reine Gedanken» nennen. 
Denn diese Form, in der gestern und heute Dr. Unger iiber das Ich 
vorgetragen hat, nennen wir die Form der reinen Gedanken. Vor 
2500 Jahren hatte es kein menschliches Gehirn gegeben - das ware 
ganz ausgeschlossen gewesen -, welches ein Werkzeug hatte sein 
konnen, um derartige Wahrheiten in solche Gedanken herunter- 
zufuhren. 



Die Wesen, die auf unsere Erde heruntersteigen wollen, miissen 
die menschlichen Leiber, die wiederum dieser Erdkreis selbst her- 
vorbringt, benutzen. Aber unsere Erde hat durch die verschiede- 
nen Kulturperioden hindurch immer andere Leiber hervorgebracht, 
mit immer anderen Organisationen; und erst in unserer funften nach- 
atlantischen Kulturperiode ist es moglich geworden, weil das 
Menschengeschlecht selber solche Leiber hervorbringt, in denen 
reine Gedanken sich bilden konnen, in der Form des reinen Gedan- 
kens zu sprechen. Selbst in der griechisch-lateinischen Zeit ware eine 
solche erkenntnistheoretische Betrachtung noch nicht moglich ge- 
wesen, weil kein Instrument, kein Werkzeug da gewesen ware, um 
diese Gedanken in einer menschenverstandlichen Sprache zu for- 
men. Das ist gerade die Aufgabe unserer funften nachatlantischen 
Kulturperiode: den Menschen in bezug auf seine physische Organi- 
sation nach und nach als ein Werkzeug so zu gestalten, dafi in immer 
reineren Gedanken auch diejenigen Wahrheiten herunterfliefien 
konnen, die zu anderen Zeiten in ganz andere Formen als in die 
Form des reinen Gedankens gefafit wurden. 

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Wenn heute der Mensch an die 
Frage von Gut und Bose herantritt, wenn er dieses oder jenes tun 
oder nicht tun soil, dann redet er davon, dafi eine Art innerer Stim- 
me spreche, die ihm ganz unabhangig von einem aufieren Gesetz 
sagt: Das sollst du tun, das sollst du nicht tun! - Wer hinhorcht auf 
die innere Stimme, der vernimmt in ihr einen gewissen Impuls, eine 
Anregung, im gegebenen Fall das eine zu tun, das andere zu lassen. 
Wir nennen diese innere Stimme «das Gewissen». Wer nun der An- 
sicht ist, da$ die einzelnen Zeiten der Menschheitsentwickelung sich 
einander doch so ahnlich sehen, der konnte nun wieder glauben, dafi 
es ein Gewissen immer gegeben hat, so lange Menschen auf der Erde 
sind. Das ware aber nicht richtig. Es lafit sich sozusagen geschicht- 
lich nachweisen, dafi einmal die Menschen angefangen haben, vom 
Gewissen zu reden. Diese Zeit ist mit Handen zu greifen. Sie liegt 
zwischen den beiden griechischen Tragikern, Aschylos, der im 6. 
Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geboren worden ist, und 
Euripides, der im 5. Jahrhundert geboren worden ist. Vorher werden 



Sie nicht finden, dafi vom Gewissen die Rede ist. Auch bei Aschylos 
gibt es noch nicht das, was wir als innere Stimme bezeichnen, son- 
dern bei ihm tritt noch das auf, was eine astralische Bilderscheinung 
fur den Menschen ist: Es treten solche Erscheinungen auf, die sich 
als rachende Wesen heranmachen an den Menschen, Furien oder 
Erinnyen. Es trat eben der Zeitpunkt einmal ein, wo die astralische 
Wahrnehmung der Furien ersetzt wurde durch die innere Stimme 
des Gewissens. 

Noch in der griechisch-lateinischen Zeit, in der bei einem grofien 
Teil von Menschen das astralische dammerhafte Wahrnehmen noch 
vorhanden war, konnte jemand, wenn er ein Unrecht getan hatte, 
wahrnehmen, wie jedes Unrecht astralische Gestalten in seiner Um- 
gebung schaffte, die ihn fiir das begangene Unrecht mit Angst und 
Schrecken erfullten. Das waren die Erzieher, der Impuls dazumal. 
Und als die Menschen die letzten Reste des astralischen Hellsehens 
verloren, ersetzte sich diese Anschauung durch die unsichtbare Stim- 
me des Gewissens, das heifk, was erst draufien war, das ging hinein 
in die Seele und wurde da eine der Krafte, die jetzt in der Seele sind. 
Das kam daher, weil sich die Menschheit, weil sich das aufiere In- 
strument, in das der Mensch hineinverkorpert wird, im Verlaufe der 
Entwickelung geandert hat. Vor fiinftausend Jahren hatte niemals 
eine menschliche Seele die Stimme des Gewissens wahrnehmen kon- 
nen; wenn sie etwas Unrechtes tat, hat sie die Furien wahrgenom- 
men. In dieser Weise lernte damals die Seele sich in ein Verhaltnis zu 
Gut und Bose zu setzen. Dann wurde sie immer wieder verkorpert 
und endlich in einen Leib hineingeboren, dessen Organisation so 
war, dafi nun die Fahigkeit des Gewissens in dieser Seele auftreten 
konnte. In einem zukiinftigen Menschheitszyklus werden wieder 
andere Fahigkeiten und andere Formen des Auslebens der Seele 
vorhanden sein. 

Ich habe schon ofter betont: Wer die Anthroposophie wirklich 
versteht und sich nicht auf einen dogmatischen Standpunkt stellt, 
der wird nicht glauben, dafi die Form, in welcher Anthroposophie 
heute ausgesprochen wird, eine ewige sei, die so bleiben konnte fiir 
die ganze zukiinftige Menschheit. Das ist nicht der Fall. Nach 2500 



Jahren werden dieselben Wahrheiten nicht in diesen Formen mehr 
verkiindet werden konnen, sondern in andere Formen gegossen wer- 
den, je nach dem Instrument, das dann da sein wird. Wenn Sie das 
beriicksichtigen, werden Sie sich dariiber klar sein, dafi in jedem Zeit- 
alter in einer anderen Weise zu den Menschen gesprochen werden 
mull, und dafi auch von den grofien Lehrern je nach den menschli- 
chen Fahigkeiten in einer anderen Weise Stellung genommen wer- 
den mufi. Das herfk aber, daft diese grofien Lehrer der Menschheit 
selber Entwickelungen durchmachen miissen, von Zyklus zu Zy- 
klus, von Lebensalter zu Lebensalter. So finden wir die Zyklen, wel- 
che die Menschheit durchmacht, und wir finden, gleichsam dariiber- 
stehend, eine fortschreitende Entwickelung der grofien Lehrer der 
Menschheit. Und wie der Mensch gewisse Stufen durchmacht, in de- 
nen er gewissermafien an Wendepunkte kommt, so machen auch 
diese grofien Lehrer gewisse Stufen der Entwickelung durch, in 
denen sie zu Wendepunkten kommen. 

Denken Sie nur an das, was schon ofter gesagt worden ist: Wir le- 
ben jetzt im fiinften Zeitraum unserer nachatlantischen Kulturent- 
wickelung. Dieser fiinfte Zeitraum ist in gewisser Beziehung eine 
Wiederholung des dritten Zeitraumes, des agyptisch-chaldaischen. 
Der sechste Zeitraum wird in gleicher Weise eine Wiederholung des 
urpersischen Zeitraumes sein und der siebente eine Wiederholung der 
altindischen Zeit. So greifen die Zyklen ubereinander. Der vierte 
Zeitraum wird keine Wiederholung haben; er steht in der Mitte, 
steht sozusagen fur sich da. Was bedeutet das? Es heifit, dafi die Men- 
schen dasjenige, was sie in der griechisch-lateinischen Zeit durch- 
machten, nur einmal in einem Kulturzeitalter durchmachen; nicht 
etwa, als ob sie nur einmal darinnen verkorpert waren, sondern sie 
machen es nur in einer Form durch. Was dagegen im agyptisch-chal- 
daischen Zeitalter durchgemacht wurde, das wird in unserer Zeit 
wiederholt, es wird also in einer zweifachen Form durchgemacht. 
Also Entwickelungsstufen gibt es, die eine Art Krisis bedeuten, wah- 
rend andere Zeiten so sind, dafi sie sich in gewisser Beziehung ahn- 
lich sehen, sich zwar nicht in derselben Weise, aber in anderer Form 
doch wiederholen. Wie der Mensch sich in der nachatlantischen Zeit 



entwickelt, macht er gleichsam eine Anzahl von Inkarnationen 
durch in der indischen Zeit und eine andere Anzahl in der siebenten 
Kulturepoche, die einander ahnlich sehen. Ebenso ist es mit der 
zweiten und sechsten, und mit der dritten und funften Epoche. Da- 
zwischen liegt die vierte Epoche, sie wird keine Wiederholung ha- 
ben, sie steht in der Mitte. Was bedeutet das? Das bedeutet, dafi der 
Mensch diese Periode nur einmal durchmachen mufi. Nicht, dafi er 
sich nur einmal verkorpert im vierten Zeitraum, sondern dafi da 
eine Anzahl von Inkarnationen liegen, die keinen anderen ahnlich 
sehen. Ein Absteigen und ein Aufsteigen macht so der Mensch 
durch. So machen auch die grofien Lehrer der Menschheit ihre Ent- 
wickelung durch in einem Abstieg und in einem Aufstieg, und sie 
sind zu den einen Zeiten etwas durchaus anderes als zu anderen 
Zeiten. 

Da nun die Menschen im ersten nachatlantischen Zeitraum ganz 
andere Fahigkeiten hatten als spater, so mufiten sie auch in einer 
ganz anderen Art unterrichtet werden. Wem ist es denn zu verdan- 
ken, dafi in unserer Zeit in logisch konziser Weise die Weisheiten 
auch in die Form des reinen Denkens zu kleiden sind? Das ist dem 
Umstande zu verdanken, dafi in der heutigen Zeit innerhalb der Er- 
denentwickelung als Durchschnittseigenschaft der Menschheit gera- 
de die Bewufitseinsseele in der Fortentwickelung ist. Im griechisch- 
lateinischen Zeitalter war es die Verstandes- oder Gemutsseele, im 
agyptisch-chaldaischen Zeitraum die Empfindungsseele, in der ur- 
persischen Kultur der Empfindungsleib und im alten Indertum der 
Atherleib - wohlgemerkt als Kulturentwickelungsfaktor. 

Was fur uns die Bewufitseinsseele ist, war fiir den Angehorigen des 
Urindertums der Atherleib. Daher hatte er eine ganz andere Art auf- 
zufassen und zu begreifen. Wenn Sie dem Inder mit reinem Denken 
gekommen waren, hatte er nicht die Spur davon verstanden. Das wa- 
ren fur ihn Laute gewesen, die keinen Sinn gehabt hatten. Den alten 
Inder konnten die grofien Lehrer nicht dadurch unterrichten, dafi 
sie ihm in der Form des reinen Denkens die Dinge iiberlieferten, sie 
ihm mit dem Munde auseinandersetzten. Gesprochen wurde zum 
Beispiel von einem grofien Lehrer im alten Indien aufierordentlich 



wenig, denn auf der Stufe, auf der damals der Atherleib stand, hatte 
man nicht die Empfanglichkeit fur das Wort, das den Gedanken um- 
fafk. Es ist fur den heutigen Menschen so schwer, sich vorzustellen, 
wie ein solcher Unterricht gewesen ist. Es wurde aufierordentlich 
wenig gesprochen, und mehr an der Farbung des Lautes, mehr durch 
die Art und Weise, wie ein Wort gesprochen wurde, erkannte die an- 
dere Seele, was eigentlich da aus der geistigen Welt herausfliefk. 
Aber das war nicht die Hauptsache. Das Wort war sozusagen nur 
das «Anschlagen», das Zeichen, dafi eine Beziehung zwischen dem 
Lehrer und dem anderen da sein soil. Es war das Wort in den altesten 
indischen Zeiten nicht viel mehr, als wenn wir mit der Glocke anlau- 
ten, um das Zeichen zu geben, dafi etwas anfangt. Es war der Kristal- 
lisationspunkt, um den sich herumweben undefinierbare, feine 
geistige Stromungen, die vom Lehrer zum Schiller gehen. Ganz be- 
sonders aber kam es darauf an, was der Lehrer in seiner innersten 
Personlichkeit war. Nicht darauf kam es an, was ein Lehrer sagte, 
sondern auf seine Seelenqualitat; denn es ging wie eine Art von Ein- 
gebung auf den Schiller uber. Weil man im besonderen den Ather- 
leib ausgebildet hatte, mufke man sich auch in der entsprechenden 
Art zu dem Atherleib verhalten, und man verstand das Ungespro- 
chene, das was irgendein Lehrer war, viel besser als das Gesproche- 
ne. Denn um das Gesprochene zu verstehen, mufken sich die Men- 
schen erst durch die spateren Kulturepochen vorbereiten. Daher 
ware es auch nicht notwendig gewesen, dafi irgendeiner der grofkn 
Lehrer dieses alten Indiens eine besonders ausgebildete Verstandes- 
oder Bewufkseinsseele gehabt hatte, denn das ware fur die damalige 
Zeit ein ganz unbrauchbares Instrument gewesen. 

Aber etwas anderes war fur diese grofien Lehrer notwendig: Es 
mufke der Lehrer in der Entwickelung seines eigenen Atherleibes 
liber dem anderen stehen. Ware er auf derselben Entwickelungsstufe 
gestanden wie der andere, dann hatte er gar nicht auf ihn besonders 
wirken konnen, hatte ihm keine Kundschaft und Botschaft aus einer 
hoheren Welt bringen konnen, keinen Impuls des Fortschrittes ge- 
ben konnen. Es mufke in gewisser Weise dasjenige dem Menschen 
gebracht werden, worin er erst in der Zukunft hineinwachsen sollte. 



Der indische Lehrer mulke gleichsam dasjenige vorausnehmen, was 
die anderen erst in der persischen Kulturepoche in sich aufnehmen 
konnten. Was die gewohnlichen Menschen in der persischen Epoche 
aufnehmen sollten durch den Empfindungsleib, das mufite er herun- 
terbringen in den Atherleib. Das heifit, der Atherleib eines solchen 
Lehrers durfte gar nicht so wirken wie die Atherleiber der anderen 
Menschen, er mufite wirken, wie der Empfindungsleib erst in der 
persischen Kultur gewirkt hat. Wenn ein Hellseher im heutigen Sin- 
ne vor einen grofien indischen Lehrer hingetreten ware, wiirde er ge- 
sagt haben: Was ist denn das fur ein Atherleib? - Denn ein solcher 
Atherleib hatte ausgesehen wie spater ein Astralleib in der persi- 
schen Zeit. 

Aber nicht ohne weiteres konnte ein solcher Atherleib so wirken 
wie ein spaterer Astralleib. Das konnte nicht durch irgendeine vor- 
ausschreitende Entwickelung in der damaligen Zeit geschehen. Das 
war nur dadurch moglich, dafi tatsachlich eine Wesenheit, die schon 
um eine Stufe hoher war als die anderen, herunterstieg und sich in 
einen menschlichen Organismus verkorperte, der eigentlich nicht 
fur sie pafite, nicht fur sie taugte, in den sie nur hineinzog, um von 
den anderen verstanden zu werden. Sie sah aufierlich gewifi so aus 
wie die anderen, aber innerlich war sie etwas ganz anderes. Es war 
vollstandiges Blendwerk und Tauschung, wenn man bei einer sol- 
chen Individuality nach dem aufieren Anschauen urteilte. Denn 
wahrend bei einem gewohnlichen Menschen das AuBere dem Inne- 
ren entspricht, widerspricht bei einem solchen Lehrer das Aufiere 
dem Innern. So dafi hier die Tatsache vorliegt, dafi Sie das alte indi- 
sche Volk haben und inmitten dieses altindischen Volkes eine Indivi- 
dualist, die fur sich selber nicht notig gehabt hatte herunterzustei- 
gen, die aber herunterstieg bis zu einer entsprechenden Stufe, um die 
anderen lehren zu konnen. Sie stieg freiwillig herunter, verkorperte 
sich in Menschengestalt, war aber etwas ganz anderes. 

Dadurch war sie auch wieder eine solche Individuality, welche die 
Schicksale, die der Mensch dadurch erlebt, dafi er ein normaler 
Mensch ist, nichts angehen. Ein solcher Lehrer lebte in einem Leib 
mit einem aufieren Schicksal und hatte keinen Anteil an diesem 



Schicksal, er wohnte blofi in diesem Leibe drinnen wie in einem 
Haus. Und wenn der Leib starb, war fur ihn der Tod ein ganz ande- 
res Ereignis als fur die anderen Menschen; ebenso die Geburt und die 
Erlebnisse zwischen Geburt und Tod. Daher arbeitete eine solche 
Individualitat auch in ganz anderer Art in diesem menschlichen 
Instrument. 

Stellen wir uns nun vor, wie sich eine solche Individualitat zum 
Beispiel des Gehirns bediente. Denn wenn auch damals mit dem 
astralischen Leib wahrgenommen wurde, so wurde das Gehirn, das 
zwar anders organisiert war, doch benutzt, um die Bilder, in denen 
wahrgenommen wurde, wie mit einem Instrument zu bemerken. Es 
gab also zweierlei Menschentypen: einen Typus, der sich seines Ge- 
hirns bediente wie ein gewohnliches Menschenwesen, und einen Ty- 
pus des Lehrers, der sich seines Gehirnes gar nicht in derselben Art 
bediente, sondern der es in gewisser Beziehung unbenutzt liefi. Der 
grofie Lehrer hatte nicht notig, alle Einzelheiten des Gehirnes zu be- 
nutzen. Er wufke sozusagen Dinge, die der andere erst wissen konn- 
te, indem er das Werkzeug des Gehirns anwendete. Was so einen 
grofien Lehrer darstellte, war also keine wirkliche, richtige Inkarna- 
tion auf der Erde, keine wirklich richtige Inkarnation eines Men- 
schen, wie es sonst der Fall war, es war eigentlich etwas, was eine 
Art Doppelnatur darstellte: eine Art geistigen Wesens war in dieser 
Organisation drinnen. Solche Wesen gab es auch in der spateren per- 
sischen Zeit, in der agyptischen Zeit und so weiter. Immer war es so, 
dafi sie mit ihrer Individualitat gleichsam herausragten iiber das Maft 
dieser menschlichen Organisation, nicht darinnen aufgingen. Da- 
durch waren sie in der Lage, in jenen alter en Zeiten auf die anderen 
Menschen zu wirken. Und das war der Fall bis zu jener Zeit, als im 
griechisch-lateinischen Zeitalter eine wichtige Krisis in der Mensch- 
heitsentwickelung eingetreten ist. 

In der griechisch-lateinischen Zeit war es besonders die Verstan- 
des- oder Gemiitsseele, die nun nach und nach anfing, die inneren 
Fahigkeiten herauszutreiben. Wahrend in der vorhergehenden Zeit 
die Hauptsache sozusagen von aufien einflofi in den Menschen - 
wie Sie das an dem Beispiel der Furien sehen konnen, wo der 



Mensch die rachenden Gestalten urn sich, nicht in sich hatte - , so 
tritt in der griechisch-lateinischen Zeit das ein, dafi gleichsam von 
innen heraus etwas entgegenstromt den groften Lehrern. Dadurch 
waren jetzt ganz neue Verhaltnisse eingetreten. 

Friiher waren also Wesen von den hoheren Welten heruntergestie- 
gen, hatten eine solche Lage vorgefunden, dafi sie sich sagen konn- 
ten: Wir haben nicht notig, ganz hineinzugehen in die menschliche 
Organisation, denn wir konnen so wirken wie wir sollen, wenn wir 
aus hoheren Welten heruntertragen in die Menschen, was sie noch 
nicht konnen, und es eben in sie einfliefien lassen. - Da brachten die 
Menschen den Lehrern noch nichts entgegen. Wenn aber die grofien 
Lehrer diese Politik weiter getrieben hatten, dann hatte es vom vier- 
ten Zeitraum ab geschehen konnen, daft eine solche Individuality 
heruntergestiegen ware, in irgendeiner Gegend aufgetreten ware, 
aber jetzt auf der Erde etwas gefunden hatte, was es da oben gar 
nicht gibt. Solange man auf der Erde die Racherinnen, die Erinnyen 
gesehen hatte, konnte man absehen von dem, was es auf der Erde 
gab. Aber nun trat unten etwas ganz Neues auf: das Gewissen. Das 
kannte man oben nicht, dafiir gab es keine Moglichkeit, es oben zu 
beobachten. Das war etwas Neues, was denen, die da oben waren, 
entgegenkam. 

Es trat also im vierten Zeitraum der nachatlantischen Kultur, mit 
anderen Worten, die Notwendigkeit ein, dafi tatsachlich diese Leh- 
rer bis in die Menschheitsstufe herunterstiegen und innerhalb der 
Menschheitsstufe selber kennenlernten, was aus der Menschenseele 
selbst nach oben der geistigen Welt entgegenschlagt. Jetzt fing also 
die Zeit an, wo es nicht mehr ging, keinen Anteil zu haben an den 
menschlichen Fahigkeiten. Und jetzt betrachten wir jenes eigenar- 
tige Wesen, von dem wir in seiner irdischen Inkarnation als dem 
Gautama Buddha sprechen. 

Gautama Buddha war vorher ein Wesen, welches so leben konnte, 
dafi es sich immer in irdische Leiber der entsprechenden Kulturpe- 
rioden verkorpern konnte, ohne Anspruch zu machen, alles in die- 
ser menschlichen Organisation zu benutzen. Dieses Wesen hatte es 
nicht notig, wirkliche menschliche Inkarnationen durchzumachen. 



Jetzt tritt aber fur den Bodhisattva ein wichtiger Wendepunkt ein, 
namlich die Notwendigkeit, kennenzulernen alle Schicksale der 
menschlichen Organisation in einem irdischen Leib, in den er ganz 
einkehren mufite. Da gab es fur ihn etwas zu erfahren, was man nur 
in einem irdischen Leib erfahren konnte. Und weil er eine hdhere 
Individuality war, so geniigte diese eine Verkorperung, um das 
wirklich zu sehen, was alles aus diesem menschlichen Leib sich her- 
ausentwickeln kann. Fur die anderen Menschen lag die Sache so, dafi 
sie jetzt die inneren Fahigkeiten durch den vierten, funften, sechsten 
und siebenten Zeitraum der nachatlantischen Kulturentwickelung 
nach und nach zu entfalten haben. Buddha dagegen konnte in dieser 
einmaligen Inkarnation alles erleben, was als Entwickelungsmog- 
lichkeit darinnen war. Was die Menschen als «Gewissen» hervor- 
treiben werden, und was immer grofier und grower werden wird, das 
sah er gleichsam voraus in seinem ersten Keim, als er seine Inkarna- 
tion als Gautama Buddha durchlebte. Daher konnte er gleich wieder 
nach dieser Inkarnation hinaufsteigen in die gottlich-geistigen Wel- 
ten und brauchte nicht spater noch eine zweite Inkarnation durch- 
zumachen. Was die Menschen auf einem gewissen Gebiete in den 
zukiinftigen Zyklen aus sich herausentwickeln werden, das konnte 
er in dieser einen Inkarnation wie eine grofie Richtkraft angeben. 
Das geschah durch das Ereignis, das uns angedeutet wird in dem 
«Sitzen unter dem Bodhibaum». Damals ging ihm auf - nach seiner 
besonderen Mission - die Lehre vom Mitleid und von der Liebe, 
die im «achtgliedrigen Pfad» enthalten ist. Diese grofie Menschheits- 
ethik, welche sich die Menschen als ihr Eigentum durch die folgen- 
den Kulturen erobern werden, ist wie eine Grundkraft hineingelegt 
gewesen in das Gemiit des Buddha, der damals herunterstieg und 
vom Bodhisattva zum Buddha wurde, das heifit, eine wirkliche 
hohere Stufe durchmachte. Denn hier hat er gelernt im Herunter- 
steigen. 

Das ist, ein wenig umschrieben, jenes grofie Ereignis, das in der 
morgenlandischen Kultur bezeichnet wird als «das Buddha-Werden 
des Bodhisattva». Als dieser Bodhisattva, der sich fruher niemals 
wirklich inkarniert hatte, neunundzwanzig Jahre alt war, da zuckte 



hinein in den Sohn des Suddhodana, da ergriff ihn vollstandig die In- 
dividualitat des Bodhisattva, die vorher noch nicht vollstandig davon 
Besitz ergriffen hatte, und er erlebte die grofie Menschheitslehre 
vom Mitleid und von der Liebe. 

Warum hat sich dieser Bodhisattva, der dann der Buddha wurde, 
gerade in diesem Volke inkarniert? Warum nicht zum Beispiel inner- 
halb des griechisch-lateinischen Volkes? 

Wenn dieser Bodhisattva wirklich der Buddha der vierten nach- 
atlantischen Kulturperiode werden sollte, dann mufite er etwas Zu- 
kunftiges bringen. Jetzt wird der Mensch durch seine Bewufkseins- 
seele, wenn sie sich entwickeln wird, reif werden, nach und nach aus 
sich selbst das zu erkennen, was der Buddha als einen grofien An- 
schlag gegeben hat. Es mufite der Buddha in der Zeit, wo die Men- 
schen nur erst die Verstandes- oder Gemiitsseele entwickelt hatten, 
schon die Bewufitseinsseele entwickelt haben. Er mufite also das 
physische Instrument des Gehirns so benutzen, dafi er es uberwaltig- 
te, in ganz anderer Weise es iiberwaltigte als ein bis zur griechisch- 
lateinischen Kulturperiode vorgeschrittener Mensch. Das griechisch- 
lateinische Gehirn ware fur ihn zu hart gewesen. Er hatte darinnen 
nur die Verstandesseele ausbilden konnen; er mufite aber die Be- 
wufitseinsseele ausbilden. Daher brauchte er ein Gehirn, das weicher 
geblieben war. Er gebrauchte die Seele, die sich spater entwickeln 
sollte, in einem Instrument, das vorher Usus war bei der Menschheit 
und das sich erhalten hatte bei dem indischen Volke. 

Da haben Sie auch eine Wiederholung: Der Buddha wiederholt 
eine Menschheitsorganisation von vorher mit einer Seelenfahigkeit 
von nachher. Bis zu diesem Grade sind die Dinge, die in der Mensch- 
heitsentwickelung vorgehen, notwendig. Und der Buddha hatte die 
Aufgabe, im 5. bis 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Be- 
wufitseinsseele hineinzutauchen in die menschliche Organisation. Er 
konnte aber als Einzelindividualitat nicht die voile Aufgabe iiber- 
nehmen, er konnte nicht alles tun, damit diese Bewufitseinsseele sich 
vom funften Zeitraum ab richtig ausbildet. Er hatte nur einen Teil 
dieser Aufgabe als seine besondere Mission, namlich die Aufgabe, 
der Menschheit die Lehre vom Mitleid und von der Liebe zu brin- 



gen. Andere Aufgaben oblagen anderen, ahnlichen Lehrern der 
Menschheit. Die in diesem Teil beschlossene Menschheitsethik, die 
Ethik der Liebe und des Mitleids, wurde angeschlagen von dem 
Buddha, und sie vibriert weiter fort. Die Menschheit aber mufi 
aufierdem fur die Zukunft eine ganze Summe anderer Fahigkeiten 
entwickeln, zum Beispiel in reinen Formen des Denkens zu denken, 
in auskristallisierten Gedanken Gedankenplastik zu treiben, einen 
Gedanken als reinen Gedanken zu dem andern zu setzen. Diese 
Fahigkeit lag nicht in der Buddha-Mission. Er sollte herausbilden, 
was den Menschen dazu fuhrt, von selber den achtgliedrigen Pfad 
zu finden. 

So mufite ein anderer Lehrer der Menschheit da sein, der ganz an- 
dere Fahigkeiten hatte und ganz andere Strome geistigen Lebens her- 
untertrug aus den hoheren, geistigen Welten in diese Welt hinein. 
Diese andere Individuality hatte die Aufgabe, dasjenige herunterzu- 
tragen, was sich heute nach und nach in der Menschheit vorzugswei- 
se zeigt als die Fahigkeit des logischen Denkens. Es mufke auch ein 
Lehrer sich finden, der das herabtrug, was dazu gehort, sich in den 
Formen des logischen Denkens auszusprechen; denn das logische 
Denken hat sich auch erst im Laufe der Zeit entwickelt. 

Was der Buddha geleistet hat, mufite in die Verstandes- oder Ge- 
rmitsseele hineingetragen werden. Diese Verstandesseele hat da- 
durch, dafi sie in der Mitte zwischen Empfindungsseele und Be- 
wufitseinsseele drinnensteht, die ganz besondere Eigentumlichkeit, 
dafi sich die Dinge nicht iiber Kreuz wiederholen. Wie sich der urin- 
dische Zeitraum im siebenten, der urpersische im sechsten Zeitraum 
wiederholen wird, und wie der vierte fur sich allein dasteht, so steht 
auch die Verstandesseele fur sich allein da. Die Krafte fur unsere in- 
tellektuellen Fahigkeiten, die erst in der Bewulkseinsseele entstehen 
mufiten, konnten nicht in der Verstandesseele entwickelt werden, 
sie mufken aber gerade, obwohl sie erst spater auftreten sollten, be- 
reits friiher veranlagt und angeregt werden. Mit anderen Worten: Es 
mufite der Impuls fur das logische Denken friiher gegeben werden, 
als der Impuls fur das Gewissen durch Buddha gegeben wurde. Das 
Gewissen sollte hineinorganisiert werden in den vierten Zeitraum; 



das bewufite reine Denken sollte im fiinften Zeitraum in der Be- 
wufitseinsseele herauskommen, mufke aber schon veranlagt sein als 
Keim zu dem, was heute aufgeht, in der dritten Kulturperiode. Da- 
her hatte jener andere grofie Lehrer die Aufgabe, der Empfindungs- 
seele jene Krafte einzuimpfen, welche heute als logisches Denken 
zum Vorschein kommen. Deshalb ist es leicht zu denken, dafi der 
Abstand dieses Lehrers von dem Normalmenschen ein noch grofie- 
rer sein mufite als der des Buddha von dem gewohnlichen Men- 
schen. Es sollte in der Empfindungsseele etwas angeregt werden, was 
im Grunde gar nicht in irgendeinem Menschen damals vorhanden 
war. Mit Begriffen, mit dem, was entwickelt werden sollte, konnte 
man gar nichts anfangen. Es hatte also jene Individuality die Aufga- 
be, den Keim zu legen zu gewissen Kraften, aber sie durfte oder 
konnte nicht diese Krafte selber verwenden. Das ging nicht. Sie 
mufite daher ganz andere Krafte verwenden. 

Nun habe ich heute morgen in dem zweiten Vortrag iiber «An- 
throposophie» auseinandergesetzt, wie allerdings zum Beispiel im 
Sehen in der Empfindungsseele Krafte wirken, die eigentlich auf 
einer hoheren Stufe erst bewufit werden und dabei als denkerische 
zum Vorschein kommen. Wenn es also einer solchen grofien Lehrer- 
individualitat gelingen konnte, diese Empfindungsseele so anzure- 
gen, dafi die Krafte des Denkens in sie ungefahr ebenso hineindran- 
gen wie denkerisches Leben auf unterbewufke Art im Sehakt, ohne 
dafi sich der Mensch Rechenschaft dariiber gibt, dann konnte diese 
Individuality erreichen, dafi die Krafte spater auf hoherer Stufe 
benutzt werden konnten. Das war nur durch eines moglich. Um die 
Empfindungsseele anzuregen, ihr sozusagen das Denkerische einzu- 
impfen, mufite wirklich diese Individuality damals auf eine ganz be- 
sondere Weise wirken: Sie mufite unterrichten nicht in Begriffen, 
sondern durch Musik! Die Musik gibt Krafte her, welche in der 
Empfindungsseele dasjenige auslosen, was, wenn es ins Bewufitsein 
hinaufsteigt und von der Bewufitseinsseele verarbeitet wird, zum lo- 
gischen Denken wird. Diese besondere Musik wirkte von einem 
Wesen aus, von einem gewaltigen Wesen, das so - durch Musik - 
unterrichtete. 



Sie werden das sonderbar finden und vielleicht glauben, so etwas 
ware nicht moglich. Es war aber doch so. Gerade in den Gegenden 
Europas war vor der griechisch-lateinischen Zeit eine uralte Kultur 
bei Volkern vorhanden, die in bezug auf solche Eigenschaften, die 
im Osten stark ausgebildet waren, zuriickgeblieben waren. In diesen 
europaischen Gegenden konnten die Menschen, weil sie sich ganz 
anders entwickeln sollten, wenig denken, sie hatten wenig von dem, 
was Krafte der Verstandes- oder Gemutsseele sind. Aber ihre Emp- 
findungsseele war gerade empfanglich fur das, was aus den Impulsen 
einer besonderen Musik, die unserer heutigen nicht ganz ahnlich 
war, hervorging. Da kommen wir in Europa auf eine Zeit zuriick, 
wo eine uralte, wir konnen sie nennen «musikalische Kultur» vor- 
handen war, wo nicht nur die «Barden» die Lehrer waren wie in Zei- 
ten, in denen diese Sache schon in Dekadenz war, sondern wo eine 
bezaubernde Musik durch die ganzen europaischen Gegenden ging. 
Es gab wahrend der dritten Kulturperiode eine tief musikalische 
Kultur in Europa, und das Gemiit jener Volker, die in der Stille ab- 
warteten, wozu sie in spateren Zeiten bestimmt waren, war in einer 
besonderen Art empfanglich fur musikalische Wirkungen. Das wa- 
ren Wirkungen auf die Empfindungsseele in ahnlicher Art, wie fur 
das Auge die denkerische Substanz auch wieder in der Empfindungs- 
seele wirkt. Die Empfindungsseele wurde bearbeitet, in ihr sollte Be- 
wufitsein entstehen, das auf hoherer Stufe in der Bewufitseinsseele 
sich als logisches Denken offenbarte. Nun kommt aber alles Be- 
wufitsein aus den Regionen des Lichtes, ebenso Musik und Gesang. 
Darum hatte durch die Musik, die auf dem physischen Plan wirkte, 
die Empfindungsseele das unterbewufite Empfinden: Das kommt 
aus Regionen, wo das Licht herkommt, Musik, Gesang aus den Rei- 
chen des Lichtes! 

Es war ein uralter Lehrer innerhalb der europaischen Kulturgegen- 
den - ein uralter Lehrer, der in diesem Sinne uralter Barde war, der 
Anfuhrer aller alten Bardenschaft. Er lehrte auf dem physischen 
Plan durch Musik, und er lehrte so, dafi durch seine Wirkungen sich 
der Empfindungsseele etwas mitteilte, wie wenn eine Sonne aufging 
und leuchtete. Was sich iiber diesen grofien Lehrer in der aufieren 



Tradition erhalten hat, das haben spater die Griechen, die noch vom 
Westen her von ihm beeinflufit waren, wie sie in anderer Weise vom 
Osten beeinflufit waren, zusammengefafk in ihren Anschauungen 
iiber den Apollo, der ein Sonnengott ist und zu gleicher Zeit der 
Gott der Musik. Diese Gestalt des Apollo fiihrt aber zuriick auf die- 
sen grofien Lehrer der Vorzeit, der in die menschliche Seele die Fa- 
higkeit gelegt hat, welche heute als logisches Denken hervortritt. 

Und ein Schuler dieses grofien Lehrers der Menschheit ist ebenfalls 
von den Griechen genannt; ein Schuler, der allerdings auf eine ganz 
eigentiimliche Weise Schuler wurde. Wie konnte jemand Schuler 
dieser Wesenheit werden? - Auf folgende Art. 

Diese Wesenheit war naturlich in jenen Zeiten, in denen sie auf die 
geschilderte Art wirken sollte, auch so, dafi sie nicht aufging in der 
physischen Organisation des Menschen, dafi sie mehr war als das, 
was als physischer Mensch auf der Erde herumging. Ein Mensch mit 
einer gewohnlichen Empfindungsseele hatte die musikalischen Wir- 
kungen aufnehmen konnen, sie aber nicht erregen konnen. Eine ho- 
here Individuality war heruntergestiegen und wie der Schein war 
das, was da aufien lebte. 

Aber in der vierten nachatlantischen Kulturperiode, im griechisch- 
lateinischen Zeitalter war es notwendig, daft diese Individuality nun 
wieder herunterstieg, sozusagen bis zur Menschlichkeitsstufe, und 
alle die Fahigkeiten, die im Menschen sind, benutzte. Aber obwohl 
sie sozusagen alle Fahigkeiten benutzte, konnte sie doch nicht ganz 
heruntersteigen. Denn um das zu bewirken, was ich eben geschildert 
habe, um diese Wirkung iiber Kreuz zusammenzubringen, brauchte 
sie Fahigkeiten, die hinausgingen iiber das Mafi dessen, was eine 
menschliche Organisation im vierten nachatlantischen Zeitraum 
hatte. In den musikalischen Wirkungen lag ja schon alles drinnen, 
was in der Bewufkseinsseele ist. Das konnte aber in jener Zeit noch 
nicht vorhanden sein in einer Individuality, die erst fur die Gemiits- 
seele in Betracht kam. Daher mulke diese Individuality, nachdem 
sie in jener Gestalt verkorpert war, trotzdem wieder etwas zuriick- 
behalten. Sie mufite sich im vierten Zeitraum so verkorpern, daft sie 
zwar den ganzen Menschen ausfiillte, aber der Mensch, der da lebte, 



hatte gleichsam aber doch etwas in sich, das iiber ihn hinausreichte. 
Er wulke etwas von einer geistigen Welt, das er nicht verwenden 
konnte. Er hatte eine Seele, die iiber diesen Leib hinausragte. 

Es war, wenn wir es menschlich betrachten wiirden, etwas Tragi- 
sches, dafi sich die Individualist, die als grofier Lehrer in der dritten 
Kulturperiode gewirkt hatte, wiederverkorpern sollte in einer sol- 
chen Gestalt, die in ihrer Seele iiber sich selbst hinausragte und doch 
keine Verwendung hatte fur eine iiber das gewohnliche Maft hinaus- 
gehende Seelenfahigkeit. Man nennt deshalb diese Art der Verkorpe- 
rung, weil das, was friiher da war, sich nicht unmittelbar, sondern in 
einer sehr komplizierten Art verkdrperte, einen «Sohn des Apollo» - 
einen Sohn, der das als Seele in sich trug, was man in der Mystik ge- 
wohnlich mit dem Symbol eines Weiblichen bezeichnet. Aber es 
war so in ihm vorhanden, daft er es nicht ganz haben konnte, da es in 
einer anderen Welt war. Das eigene Seelisch-Weibliche trug er in 
sich in einer andern Welt, zu der er nicht den Zugang hatte, in die er 
sich aber hineinsehnte, weil ein Teil seines eigenen Selbstes darinnen 
war. Diese wunderbare innere Tragik der wiederverkorperten gro- 
fien Lehrerindividualitat von friiher hat der griechische Mythos in 
einer wunderbaren Art festgehalten bei dem Namen, den er dem 
wiederverkorperten Apollo oder dem «Sohn des Apollo» gegeben 
hat: in Orpheus. 

In dem Mythos von Orpheus und Eurydike wird diese Tragik der 
Seele in einer wunderbaren Weise dargestellt. Eurydike wird dem 
Orpheus fruh entrissen. Sie ist in einer anderen Welt. Orpheus steigt 
ins Reich der Schatten hinunter. Er hat noch die Fahigkeit, die We- 
senheiten in der Unterwelt durch seine Musik zu riihren. Er erhalt 
die Erlaubnis, Eurydike wieder mitzunehmen. Aber er darf sich 
nicht umschauen, denn es ist der Anblick fiir ihn innerlich ertotend, 
oder wenigstens verlustbringend, wenn er auf das zuriickschaut, was 
er vorher gewesen ist, und was er jetzt nicht in sich aufnehmen 
kann. 

So haben wir in dem Orpheus- Werden des Apollo wiederum eine 
Art Herabsteigen eines Bodhisattva, wenn wir einen orientalischen 
Namen anwenden wollen, der zu einem Buddha wird. Und so konn- 



ten wir eine Reihe von solchen Wesenheiten anfiihren, welche von 
Zeitalter zu Zeitalter als die grofien Lehrer der Menschheit dastehen, 
und welche innerhalb ihres tiefsten Herabstieges, wenn sie zu einem 
Buddha werden, etwas ganz besonderes erleben. Der Buddha erlebt 
die Seligkeit, die ganze Menschheit zu inspirieren. Jener Bodhisattva, 
der aufierlich unter dem Namen «Apollo» erhalten ist, erlebt etwas 
Individuelles; er sollte ja gerade die Individuality, die Ich-Eigen- 
schaft vorbereiten. Er erlebt die Tragik des Ich, er erlebt, daft dieses 
Ich nicht ganz bei sich selber ist, wie die Menschen in bezug auf diese 
Menschheitseigenschaft heute eben sind. Der Mensch strebt hinauf 
zu dem hoheren Ich. Das ist vorgebildet in dem, was fur Griechen- 
land der Buddha oder Bodhisattva in entsprechender Weise in 
Orpheus ist. 

Da sind wir aus Einzelheiten heraus zu einer Charakteristik jener 
grofien Lehrer der Menschheit gekommen und konnen uns jetzt et- 
was vorstellen bei solchen Begriffen. Wenn Sie nun das zusammen- 
fassen, was ich jetzt gesagt habe, so werden Sie sehen, dafi ich immer 
von solchen Wesenheiten gesprochen habe, welche ausgebildet ha- 
ben zum Beispiel die Empfindungsseele, die Verstandes- oder Ge- 
imitsseele und die Bewufitseinsseele in einer bestimmten Weise als 
innerliche Fahigkeiten - als Fahigkeiten, die von innen in den Men- 
schen einziehen miissen. Wir konnen, weil wir nur diesen Zeitraum 
iiberblicken, zunachst nur diese zwei vor uns haben: die Ausbilder 
der Empfindungsseele. Aber es gibt viele solcher Wesenheiten, weil 
sich die Inner lichkeit des Menschen nach und nach, Stufe fur Stufe, 
entwickelt. 

Vergleichen wir jetzt mit dem, was sozusagen das Innerliche des 
Menschen ergreift, eine andere Wesenheit, und zwar aus dem Grun- 
de, weil wir uns doch sagen miissen: Wenn immer Lehrer kommen, 
welche die steigernd sich fortentwickelnden inneren Fahigkeiten mit 
geistiger Nahrung aus den oberen Regionen versehen, so miissen an- 
dere Individualitaten da sein, die eine andere Arbeit verrichten, die 
vor allem Hand anlegen an die Veranderung der Erde selber und an 
dem, was sich da von Zeitalter zu Zeitalter fortentwickelt. Wenn der 
Buddha in der vierten Kulturepoche sozusagen die Verstandesseele 



durch die Bewufkseinsseele von innen ergriff, so mufke diese Ver- 
standesseele auf der anderen Seite auch von aufien ergriffen werden. 
Es mufke von auften etwas an sie herankommen. Diese Wesenheit 
mufke nun von einer anderen Seite herkommen und in einer ganz 
anderen Weise wirken. 

Ein solcher Lehrer, wie wir ihn eben charakterisiert haben, mufi- 
te, indem er sich hinstellte vor den Menschen, hineingiefien in das 
menschliche Innere, was er zu bringen hatte aus hoheren Regionen. 
Lehrer war er. Was mufke die andere Wesenheit tun, welche sozusa- 
gen die Erde weiterbrachte, dafi sie sich von Geschlecht zu Ge- 
schlecht entwickelte? Sie mufke nicht blofi ein Inneres ergreifen, 
nicht blofi an den Menschen herangehen, um in ihm diese oder jene 
Fahigkeiten zu entwickeln, sondern sie mufke selber als solche We- 
senheit, als Wesenheit auf die Erde heruntersteigen. Da mufke nicht 
nur ein Lehrer fur die Verstandesseele, sondern ein Former fur die 
Verstandesseele heruntersteigen. Einer, der sie selber bildete, mufke 
auftreten, der sozusagen der unmittelbare Ausdruck dieser Seele des 
vierten Zeitraumes war, dieses ausgezeichneten Zeitraumes, der in 
der Mitte dasteht. Diese Wesenheit mufke von einer ganz anderen 
Seite kommen. Sie mufke in die menschliche Natur selber einzie- 
hen, sich da selber verkorpern. Schufen die Bodhisattvas das 
menschliche Innere um, dieser schuf die ganze menschliche Natur 
um. Er machte erst moglich, dafi die Lehrer einen geeigneten Boden 
fanden in der Zukunft. Er gestaltete die ganze menschliche Wesen- 
heit um. 

Erinnern wir uns daran, wie sich bei der menschlichen Wesenheit 
die verschiedenen Seelen hineinbauen in die einzelnen Leiber: die 
Empfindungsseele in den Empfindungsleib, die Verstandes- oder Ge- 
mutsseele in den Atherleib und die Bewufkseinsseele in den physi- 
schen Leib. Wo die Bewufkseinsseele sich in den physischen Leib 
hineinbaut, da ist die Wirkung der Bodhisattvas, da ergriffen sie den 
Menschen von der einen Seite. Da, wo die Verstandesseele oder Ge- 
mutsseele wirkt bis zum Atherleib, da ergriff eine andere Wesenheit 
den Menschen im vierten Zeitraum von der anderen Seite. Wann tat 
sie das? 



Das geschah in der Zeit, als ein Atherleib des Menschen unmittel- 
bar zu ergreifen war, als jene Wesenheit, die wir als Jesus von Naza- 
reth genauer geschildert haben, den physischen Leib im Moment der 
Johannestaufe verliefi. Als dieser ganze Leib untergetaucht wurde - 
wobei sonst dasjenige eintrat, was wir als einen «Schock» beschrie- 
ben haben - , da senkte sich in den Atherleib dieser Individualitat 
hinein die Christus- Wesenheit. Das ist jene Individualitat, welche 
von der anderen Seite kommt, die nun aber auch ganz anderer Natur 
ist. Wahrend wir es bei den anderen grolfen Fuhrerindividualitaten 
in gewisser Beziehung mit hoher entwickelten Menschen zu tun ha- 
ben, mit solchen Menschen, die wenigstens einmal alle Menschheits- 
schicksale durchgemacht haben, konnen wir das von der Christus- 
Individualitat nicht sagen. Was ist das Unterste bei dieser Christus- 
Wesenheit? Von unten herauf ist es der Atherleib. Das heifit, wenn 
einmal der Mensch durch das Geistselbst seinen ganzen astralischen 
Leib umgearbeitet haben wird und hineinwirken wird in den Ather- 
leib, dann wird er in diesem Atherleibe in einem Element arbeiten, 
in dem der Christus schon dazumal auf dieselbe Weise gearbeitet 
hat. Der Christus gibt einen Impuls machtigster Art, der bis in die 
Zukunft hineinwirkt, an den der Mensch erst kommt, wenn er an 
die Bearbeitung seines Atherleibes in bewufker Weise herantritt. 

Wenn der Mensch sein Leben durchwandelt, geht er von der Ge- 
burt oder auch von der Empfangnis zum Tode, dann vom Tode zu 
einer neuen Geburt. Auf dem Wege zur neuen Geburt macht er 
nach dem Tode zunachst die astralische Welt durch, dann das, was 
wir den unteren Teil der devachanischen Welt nennen und dariach 
den oberen Teil der devachanischen Welt. Wenn wir europaische 
Ausdriicke gebrauchen, nennen wir den physischen Plan die kleine 
Welt oder die Welt des Verstandes, das Astralische die Welt des Ele- 
mentarischen, das untere Devachan die himmlische Welt und das 
obere Devachan die Vernunftwelt. Und weil der europaische Geist 
sich erst nach und nach heraufarbeitet, um in seiner Sprache die ent- 
sprechenden wirklichen Ausdriicke zu haben, so hat dasjenige, was 
uber der devachanischen Welt liegt, einen religios gefarbten Aus- 
druck bekommen und heifit so die «Welt der Vorsehung», das ist 



dasselbe wie der Buddhiplan. Was dariiber ist, das konnte das alte 
Hellsehen zwar iiberblicken und alte Uberlieferungen konnten es 
der Menschheit geben, aus den europaischen Sprachen heraus konn- 
te ihm aber kein Name gegeben werden, weil heute erst der Seher 
sich wieder dazu heraufarbeitet. So dafi iiber der Welt der Vorse- 
hung eine Welt liegt, fiir die es in ganz ehrlicher und richtiger Weise 
den Namen in den europaischen Sprachen noch nicht geben darf. Sie 
ist wirklich da, nur ist das Denken noch nicht so weit, um sie cha- 
rakterisieren zu konnen; denn es kann auch nicht ein beliebiger 
Name gefunden werden fiir das, was sonst im Orientalischen «Nir- 
wana» genannt wird und was iiber der «Welt der Vorsehung» liegt. 

Der Mensch, sagte ich, geht hinauf zwischen dem Tode und einer 
neuen Geburt bis zu dem oberen Devachan oder der Vernunftwelt. 
Dort sieht er hinein in hohere Welten, in denen er nicht selber drin- 
nen ist, und sieht jene iiber ihm stehenden Wesenheiten in diesen ho- 
heren Welten wirken. Wahrend der Mensch sein Leben zubringt in 
Welten vom physischen Plan bis zum Devachanplan, ist es das Nor- 
male einer Bodhisattva-Wesenheit, dafi sie bis in den Buddhiplan 
hinaufgeht, was wir in Europa die Welt der Vorsehung nennen. Das 
ist ein gutes Wort, denn es ist ihre Aufgabe, die Welt von Zeitalter 
zu Zeitalter mit Vorsehung zu lenken. Was tritt nun ein, wenn der 
Bodhisattva durch die Verkorperung - wie bei Gautama Buddha - 
durchgegangen ist? 

Wenn er eine gewisse Stufe erreicht hat, gelangt er hinauf zum 
nachsten Plan, zum Nirwanaplan. Da hat er seine nachste Sphare. 
Damit haben wir charakterisiert die Bodhisattvas, die dann die 
Buddhas werden, um in den Nirwanaplan hineinzugehen. Alles was 
am menschlichen Innern so arbeitet, in das Innere hinein, das lebt in 
einer Sphare, die hinaufreicht bis zum Nirwanaplan. Von der ande- 
ren Seite her wirkt in die menschliche Natur hinein eine Wesenheit 
wie der Christus. Von der anderen Seite her wirkt er auch in jene 
Welten hinein, in welche die Bodhisattvas hinaufsteigen, wenn sie 
die Region der Menschheit verlassen, um selber zu lernen, damit sie 
dann Lehrer werden konnen in der Menschheit. Da tritt ihnen von 
oben, von der anderen Seite her, eine solche Wesenheit entgegen wie 



der Christus. Dann sind sie die Schiiler des Christus. Zwolf Bodhi- 
sattvas umgeben eine solche Wesenheit, wie es der Christus ist, und 
wir konnen iiberhaupt nicht von mehr als zwolf reden, denn wenn 
die zwolf Bodhisattvas ihre Mission erreicht haben, haben wir die 
Zeit des Erdenseins erschopft. 

Der Christus war ein einziges Mai physisch da und hat damit dasje- 
nige durchgemacht, was Abstieg, Ankunft auf der Erde und Aufstieg 
ist. Er kommt von der anderen Seite und ist diejenige Wesenheit, die 
in der Mitte der zwolf Bodhisattvas ist, die sich dort dasjenige holen-, 
was sie auf die Erde herunterzutragen haben. So steigen die Bodhi- 
sattva-Wesenheiten zwischen zwei Inkarnationen hinauf bis zum 
Buddhiplan, und bis zum Buddhiplan reicht dasjenige, was ihnen 
vollbewufit als Lehrer entgegentritt: die Wesenheit des Christus. 
Auf dem Buddhiplan begegnen sich die Bodhisattvas und der Chri- 
stus. Und wenn die Menschen weiterschreiten und diejenigen Eigen- 
schaften entwickeln, die ihnen durch die Bodhisattvas eingetraufelt 
werden, dann werden sie auch immer reifer werden, um in dieselbe 
Sphare hinaufzudringen. Einstweilen aber handelt es sich darum, 
dafi die Menschheit erkennen lernt, dafi in dem Jesus von Nazareth 
inkarniert war, das heifit in menschlicher Gestalt erschienen war die 
Christus- Wesenheit, und dafi durch diese menschliche Gestalt erst 
durchzudringen ist, um zu der wahren Wesenheit der Christus-Indi- 
vidualitat zu gelangen. 

So gehoren zu dem Christus zwolf Bodhisattvas, die vorzubereiten 
und weiter auszubauen haben, was er als den grofiten Impuls unserer 
Kulturentwickelung gebracht hat. Da erblicken wir die Zwolf und 
in ihrer Mitte den Dreizehnten. Damit sind wir aufgestiegen in die 
Sphare der Bodhisattvas und eingetreten in einen Kreis von zwolf 
Sternen, und in ihrer Mitte die Sonne, die sie erleuchtet und er- 
warmt, von der sie jenen Lebensquell haben, den sie dann wieder 
herunterzutragen haben auf die Erde. Wie nimmt sich auf der Erde 
das Abbild von dem aus, was da oben geschieht? 

Auf die Erde herunterprojiziert nimmt es sich so aus, dafi wir sa- 
gen konnen: Der Christus, der auf der Erde gelebt hat, hat dieser Er- 
denentwickelung einen solchen Impuls gebracht, dafi die Bodhisatt- 



vas vorzubereiten hatten die Menschheit fur diesen Impuls und auch 
wieder auszubauen haben, was der Christus der Erdenentwickelung 
gibt. Das nimmt sich wie ein Bild auf der Erde aus: Der Christus in 
der Mitte der Erdenentwickelung, die Bodhisattvas als seine Vorbo- 
ten und seine Nachfolger, die seine Arbeit der Menschheit wiederum 
nahezubringen haben. 

So mufite eine Anzahl von Bodhisattvas in der Menschheit vorar- 
beiten, damit die Menschheit reif wurde, den Christus zu empfan- 
gen. Nun ist aber die Menschheit, nachdem sie reif war, den Chri- 
stus unter sich zu haben, noch lange nicht reif, alles dasjenige zu er- 
kennen, zu fuhlen und zu wollen, was der Christus ist. Und ebenso 
viele Bodhisattvas als notwendig waren, um die Menschen fur den 
Christus vorzubereiten, ebenso viele sind notwendig, um das, was 
durch den Christus in die Menschheit einfliefien soil, in die Mensch- 
heit hinauszufuhren. Denn in dem Christus ist so viel, dafi die Krafte 
und Fahigkeiten der Menschen immer grofiere werden mussen, um 
ihn ganz zu verstehen. Mit den heutigen Fahigkeiten ist er nur 
zum kleinsten Teil zu verstehen. Hohere Fahigkeiten werden der 
Menschheit erstehen, und mit jeder neuen Fahigkeit werden wir den 
Christus in einem neuen Lichte ansehen. Und erst wenn der letzte 
zum Christus gehorige Bodhisattva seine Arbeit getan haben wird, 
wird die Menschheit empfinden, was der Christus ist; dann wird sie 
von einem Willen beseelt sein, in dem der Christus selber lebt. Der 
Christus wird durch das Denken, Fuhlen und Wollen in die mensch- 
lichen Wesen einziehen, und die Menschheit wird die aufiere Aus- 
pragung des Christus auf der Erde sein. 



ZWEITER VORTRAG 



Berlin, 22. Dezember 1909 



Die heutige Betrachtung moge gewidmet sein Dingen, welche den 
Anthroposophen im weiteren Sinne des Wortes interessieren kon- 
nen und die dazu bestimmt sein sollen, denen, welche schon langere 
Zeit an diesen Zweigabenden teilgenommen haben, diese oder jene 
Sache genauer zu beleuchten. Vor allem ist es gut, wenn wir uns ab 
und zu wieder in die Erinnerung rufen, daft es in der Geisteswissen- 
schaft nicht allein darauf ankommt, dieses oder jenes so im allgemei- 
nen als Theorie, als Lehre zu wissen, sondern dafi es darauf an- 
kommt, immer wieder und wieder sich genauer und eingehender mit 
den entsprechenden Fragen und Lebensratseln zu beschaftigen. Es 
konnte ja vielleicht jemand sagen: Was man zunachst fiir das Leben 
aus der Geistesforschung zu wissen braucht, das liefie sich bequem in 
ein kleines Heftchen von vielleicht sechzig Seiten, wenn man alles 
unterbringen will, hineinbringen, und dann konnte sich jeder dieses 
Heftchen von sechzig Seiten zu eigen machen; er hatte dann eine 
Uberzeugung uber das Wesen des Menschen, iiber Reinkarnation 
und Karma, uber die Entwickelung der Menschheit und der Erde, 
und konnte nun mit dieser Uberzeugung durch das Leben wandern. 
Und jemand, der das gern hatte, konnte vielleicht sagen: Ja, warum 
macht es denn eigentlich diese anthroposophische Bewegung nicht 
so, dafi sie in moglichst vielen Exemplaren diese hauptsachlichsten 
Gesichtspunkte in die Welt hinausstreut, damit jeder Mensch sich 
eine Uberzeugung dariiber aneignen kann? Warum tut diese Bewe- 
gung das zunachst merkwiirdig Scheinende, daft sie jede Woche ein- 
mal diejenigen, welche sich mit Geisteswissenschaft beschaftigen 
wollen, zusammenruft, um immer von neuem das zu beschreiben, 
was sich bequem auf sechzig Seiten unterbringen liefie? Was haben 
denn, konnte man fragen, diese Anthroposophen jede Woche immer 
wieder und wieder ihren Leuten zu sagen? 

Nun, es entspricht vielleicht gewissen Glaubensbekenntnissen un- 
serer Zeit, auch in bezug auf die Geistesforschung einen solchen kur- 



zen Abrifi fur die Westentasche zu haben, um sich auf diese Weise 
das Wichtigste aneignen zu konnen. Aber das ist es ja, was wir uns 
immer mehr und mehr ins Gedachtnis rufen sollten, dafi es mit 
einem solchen «Abrifi-Wissen» in der Geistesforschung nicht getan 
ist - dafi es iiberhaupt im Grunde nicht auf das Wissen ankommt, 
obwohl Geistesforschung in einem Wissen, in einer Erkenntnis be- 
steht - , dafi es nicht geniigt, in allgemeinen Phrasen das Wesen der 
Geistesforschung zu sehen, sondern in ganz bestimmten Erkenntnis- 
sen. Aber wiederum geniigt es doch nicht, sich diese Erkenntnisse 
etwa im Sinne der heutigen Zeit als eine allgemeine Uberzeugung an- 
geeignet zu haben und dann damit zufrieden zu sein. Denn nicht dar- 
um handelt es sich, eine solche Uberzeugung einmal zu haben, zu 
wissen: Der Mensch lebt nicht nur einmal, es gibt Ursachenverhalt- 
nisse, welche von einem Leben in das andere hinubergehen, es gibt 
Reinkarnation und Karma. Das ist nicht das eigentlich Heilsame der 
Geistesforschung, diese Lehren zu verbreiten, sondern sich einge- 
hend und intim mit diesen Lehren, namentlich in bezug auf ihre 
Einzelheiten immer wieder und wieder zu beschaftigen, sie unausge- 
setzt auf seine Seele wirken zu lassen. Denn man hat im Grunde von 
der Uberzeugung gar nichts, die uns einfach glauben lafit: Ja, der 
Mensch lebt nicht nur einmal zwischen Geburt und Tod, er lebt ot- 
ter; es gibt eine Reinkarnation, ein Karma und so weiter. Von dem 
Glauben an diese Dinge hat man im Grunde nicht viel. Und es ist im 
Grunde zwischen der Seele eines Menschen, der nicht weift, dafi es 
eine Reinkarnation und ein Karma gibt, und zwischen der Seele 
eines solchen Menschen, der das weifi, kein sehr grower Unterschied 
in bezug auf die wirklichen Tiefen des Lebens. Unsere Seele wird im 
anthroposophischen Sinne erst dann eine andere, wenn wir uns im- 
mer wieder und wieder nicht nur mit den Allgemeinheiten, sondern 
mit den besonderen Tiefen beschaftigen, die uns die Geistesfor- 
schung zu sagen hat. So kommt es, dafi es gut ist, wenn wir uns im- 
mer wieder verstandigen in bezug auf die anthroposophische Auffas- 
sung dieser oder jener Lebenseinzelheit. Nur im allgemeinen zu wis- 
sen, dafi es ein grofies Schicksalsgesetz gibt, welches einen Zusam- 
menhang schafft zwischen vergangenen Taten, vergangenen Empfin- 



dungen, vergangenen Gedanken eines Menschen und zwischen ge- 
genwartigen und zukiinftigen Erlebnissen, dieses nur im allgemeinen 
zu wissen, geniigt eben durchaus nicht. Erst dann wird Geisteswis- 
senschaft eine Lebenssache, wenn wir diese allgemeinen Lehren an- 
wenden konnen auf die einzelnen Erfahrungen des Lebens, wenn 
wir imstande sind, unsere ganze Seele sozusagen einzustellen auf den 
Gesichtswinkel, durch den wir das Leben in einer neuen Art anse- 
hen. Daher soil heute zunachst eine kleine Betrachtung angestellt 
werden liber das Karmagesetz, jenes grofie Schicksalsgesetz in bezug 
auf Einzelheiten des Lebens. Dinge sollen zusammengefafk werden 
vom Gesichtspunkte des Karmagesetzes, welche den meisten von 
Ihnen bereits bekannt sind, die aber auch einmal unter den Gesichts- 
winkel des Karma geriickt werden miissen. 

«Karma» sagt im allgemeinen, dafi es einen Zusammenhang gibt in 
der geistigen Welt zwischen dem, was heute geschieht und in der Zu- 
kunft geschehen wird, und dem, was in der Vergangenheit gesche- 
hen ist. Es ist nicht einmal ganz besonders gut, das Karma- oder 
Schicksalsgesetz das Gesetz der Verursachung zu nennen und es 
dann zu vergleichen mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung in 
der aufieren Welt. Wenn wir einen Vergleich haben wollen £iir die- 
ses grofie Schicksalsgesetz, so miissen wir immer auch darauf sehen, 
dafi dieser Vergleich als solcher stimmt, dafi er auch wirklich dasjeni- 
ge veranschaulicht, was das Schicksalsgesetz sagt. 

Nehmen wir einmal als Vergleich folgendes. Wir haben zwei Gefa- 
fie mit Wasser und aufierdem zwei Metallkugeln, die gewohnliche 
Zimmerwarme haben. Wir werfen die eine Kugel in das eine Wasser- 
gefafi: Das Wasser bleibt, wie es ist. Jetzt nehmen wir die andere Ku- 
gel, und nachdem wir sie gluhend gemacht haben, werfen wir sie in 
das andere Wassergefafi: Das Wasser darinnen wird heifi! Warum ist 
das Wasser in dem zweiten Gefafi heifier geworden? Warum nicht in 
dem ersten? Es ist heifier geworden aus dem Grunde, weil die Kugel 
selber, bevor sie in das Wasser hineingeworfen wurde, eine Verande- 
rung durchgemacht hat, und die Veranderung durch das Gliihend- 
machen hatte zur Folge die Erhitzung des Wassers. Es trat ein Ge- 
schehnis auf, das die Folge war eines anderen Ereignisses, namlich 



des Gliihendmachens. Mit dem, was in der vorhergehenden Zeit 
Erlebnis, was Tatigkeit war, hangt dasjenige zusammen, was in der 
Gegenwart oder Zukunft als Erlebnis, als Erscheinung uns ent- 
gegentritt. 

Wenn wir das Gesetz der geistigen Zusammenhange zwischen Ver- 
gangenheit, Gegenwart und Zukunft in dieser Weise ins Auge fassen, 
so werden wir es schon im gewohnlichen Leben, in dem Leben, das 
rings um uns herum ablauft und das wir beobachten konnen, wenn 
wir nur wollen, bestatigt finden, auch wenn wir noch lange nicht ir- 
gendwelche hellseherischen Fahigkeiten entwickelt haben. Denn das 
miissen wir ja immer wieder als eine goldene Regel feststellen: Rich- 
tig bewiesen werden kann ein Gesetz der geistigen Welt nur mit der 
hellseherischen Beobachtung, nur von dem Geistesforscher; dagegen 
belegt werden durch aufiere Bestatigungen kann ein solches Gesetz 
durch die Erlebnisse der aufieren Welt immer. Allerdings, um das 
Karmagesetz im Leben bestatigt zu finden, dazu werden sich die 
Menschen angewohnen miissen, schon das aufiere Leben ein wenig 
genauer zu beobachten als das gewohnlich geschieht. Denn die 
Menschen beobachten das Leben gewohnlich nicht weiter als, bild- 
lich gesprochen, ihre Nase reicht. Was etwas weiter weg liegt, das 
beobachten sie schon nicht mehr. Wer aber das aufiere Leben tiefer 
beobachtet, der wird schon zwischen Geburt und Tod im Men- 
schendasein das Karmagesetz wohl hinlanglich da oder dort bestatigt 
finden konnen. 

Wir wollen uns moglichst an Konkretes halten; nehmen wir ein- 
mal den folgenden Fall an. Irgendein junger Mensch ware im fiinf- 
zehnten Jahre seines Lebens durch irgendein Ereignis aus seiner bis- 
herigen Lebensbahn herausgerissen worden. Sagen wir, er hatte 
durch die Lage seiner Eltern bis zum funfzehnten Jahre studieren 
konnen, und er ware im funfzehnten Jahre genotigt worden, viel- 
leicht dadurch, dafi der Vater sein Vermogen verloren hat, den Kauf- 
mannsstand zu ergreifen. Er ist also aus einem Lebensberuf heraus- 
und in einen anderen hineingeworfen worden. Selbstverstandlich 
handelt es sich nicht darum, irgendeinen Lebensberuf fur wertvoller 
zu halten als einen anderen, sondern darum, dafi eine Veranderung 



im Leben eintritt, wenn so etwas vor sich geht. Nun wird man wahr- 
scheinlich, wenn man das Leben in dem heute gewohnlichen, mate- 
rialistischen Sinne betrachtet, nichts Erhebliches unter dem Einflufi 
einer solchen Erscheinung in dem Leben eines Menschen suchen 
und dann auch nicht finden. Wer aber genauer beobachtet, der wird 
finden, daft ein Mensch, der so in einen andern Beruf hineinkommt, 
zunachst durch die Abwechselung, die ibm der neue Beruf darbietet, 
Freude, Sympathie haben kann fur seinen Beruf, dafi er sozusagen 
mit Interesse hineinwachst in diesen seinen Beruf. Dann kann aber 
etwas Merkwiirdiges auftreten. Was Seelenerlebnisse sind, was Sym- 
pathien und Antipathien sind im Berufe, das kann mit dem acht- 
zehnten bis neunzehnten Jahre anfangen, eine andere Gestalt anzu- 
nehmen. Die Freude am Berufe kann aufhoren, der Mensch kann an- 
fangen, sich ganz anders zu verhalten zu seinem Beruf. Man wird in 
gewisser Weise ratios sein gegenuber dem, was sich dann in der Seele 
eines solchen Menschen zutragt, wenn man niemals etwas gehort hat 
von der Anthroposophie. 

Was ist denn da geschehen? Es ist das geschehen, dafi der Mensch 
von dem fiinfzehnten Jahre an, als er in einen neuen Beruf versetzt 
worden ist, sich mit Interesse in diesen Beruf hineingefunden hat. 
Dieses Interesse hat zunachst jene Empfindungen und Seelenstim- 
mungen, die sich herangebildet haben, als dieser Mensch sich ganz 
anders betatigt hatte, zuriickgeschoben. Dann kommt aber eine 
Zeit, wo das alles mit um so grofierer Kraft durchbricht. Geradeso 
wie wenn man einen elastischen Korper gedriickt hat - man kann 
eine Weile driicken, dann aber schnellt die Masse um so starker zu- 
riick - , so kann die Folge sein, dafi die Interessen, die eine Weile zu- 
riickgeschoben worden sind, jetzt ganz besonders ausbrechen. Im 
achtzehnten bis neunzehnten Jahre bricht dann alles hervor, was 
sich an Empfindungen, an Stimmungen in die Seele hineingedrangt 
hat drei Jahre vor jener Veranderung, das heifk im achtzehnten bis 
neunzehnten Jahre alles dasjenige, was sich im elften bis zwolften 
Jahre in die Seele hineingedrangt hatte und so weiter. Und man fin- 
det sich nur zurecht im Leben eines Menschen, wenn man sich sagen 
kann: Da ist mit dem fiinfzehnten Jahre ein Lebensknotenpunkt ein- 



getreten, und es treten nach diesem Zeitpunkt Geschehnisse auf, 
welche in ihren Wirkungen nach aufien ebenso viele Jahre spater lie- 
gen, als ihre Ursachen ebenso viele Jahre vor diesem Knotenpunkt 
liegen. 

Denken Sie einmal, wie man einem Menschen helfen kann in be- 
zug auf Seelenstimmungen und Schwierigkeiten im Leben, wenn 
man in der Lage ist, sich zu fragen: Wo liegt ein solcher seelischer 
Knotenpunkt im Leben dieses Menschen? - Er kann sehr intim lie- 
gen. Wenn man aber auf einen solchen Knotenpunkt kommt, dann 
kann man zuriickrechnen und hat dann eine geistige Wirkung 
ebenso viele Jahre nach diesem Lebensknotenpunkt, als man eine 
Ursache hat ebenso viele Jahre vor demselben. So bekommt man 
eine Anschauung von dem Karma. Die Erkenntnis hilft uns im Le- 
ben weiter und wir konnen uns sagen: Solche Ursachen und Wir- 
kungen im Leben eines Menschen hangen nach bestimmten Zeitrau- 
men zusammen, so dafi sie sich nach einem bestimmten Zeitpunkt 
im Leben richten; und wenn wir von diesem Zeitpunkt vorwarts- 
und zuriickzahlen, so konnen wir den Zusammenhang von Ursache 
und Wirkung finden. 

Nun kann sich so etwas naturlich durch den Eintritt anderer Er- 
eignisse verdecken. Es konnte zum Beispiel jemand kommen und sa- 
gen: Das Beispiel, das du uns da gegeben hast, stimmt nicht! Ich habe 
das gerade bei einem jungen Menschen erlebt, bei dem das nicht der 
Fall ist. - Ja, ich habe es auch schon erlebt, dafi zwei Leute zusam- 
men Billard spielten, da kam gerade der Kellner vorbei und stiefi 
denjenigen an, der gerade am Spiel war, und die Kugel flog in einer 
ganz anderen Richtung, als sie sonst geflogen ware. Aber deshalb ist 
das Gesetz der Verursachung nicht falsch, sondern es sind eben ande- 
re Verhaltnisse eingetreten. Wir mussen aber dabei bedenken, dafi 
wir das Gesetz niemals kennenlernern, wenn wir nicht von denjeni- 
gen Dingen absehen, welche das Gesetz storen. Es konnen nach dem 
fiinfzehnten Jahre wiederum andere Umstande eintreten, welche das 
Gesetz durchkreuzen. Gesetze lernt man nicht dadurch kennen, dafi 
man das Leben blofi beobachtet, sondern dadurch, dafi man sich zu- 
nachst die richtige Art aneignet, die Erscheinungen des Lebens zu- 



sammenzubringen. Denn im Leben werden die Dinge fortwahrend 
gestort, da zeigen sich die Gesetze nicht so leicht. Dennoch kann 
man das Leben nur regeln, wenn man die Gesetze so kennt, wie sie 
gefunden werden miissen. Wenn man die Einzelheiten kennt, so 
kann man sich bei einem jungen Menschen, der eine solche Umknik- 
kung des Lebens erfahren hat, sagen: Es ist eine Aufgabe des Erzie- 
hers, jetzt darauf zu achten! - Da wird das Karma ein Lebensgesetz, 
da tritt der Fall ein, wo man das Gesetz im Leben handhaben kann, 
da wird es erst niitze. Man wird vielleicht in einem solchen Fall dem 
Kinde, nachdem man ihm nicht mehr das geben kann, was man ihm 
vorher gegeben hat, jetzt erst ein Berater sein konnen. Aber das 
kann man nur sein, wenn man solche Zusammenhange kennt, wenn 
man weifi, was dem Menschen fehlt und gerade dort eingreifen und 
wirken kann, wo der betreffende Mangel im Leben einsetzt. Wenn 
man das nicht weifi, kann man dem jungen Menschen kein Berater 
sein. Da wird das Karmagesetz zu einem Einschlag des Lebens, da 
lernt man ein Berater sein im Leben, wenn man das Karmagesetz als 
ein Lebensgesetz betrachtet. 

Es liegen ja naturlich nicht nur solche Zusammenhange im Leben 
vor, sondern das Karmagesetz zwischen Geburt und Tod lebt sich 
auch noch in einer anderen Weise aus. So besteht ein merkwurdiger 
Zusammenhang zwischen den Erlebnissen eines Menschen in der er- 
sten Halfte seines Lebens und denen in der zweiten Lebenshalfte, 
nur beobachten ihn die Menschen nicht. Beispielsweise lernt man 
einen Menschen kennen; er ist jung und man verliert ihn aus den 
Augen, bevor er in ein bestimmtes Alter gekommen ist. Oder man 
lernt einen Menschen in einem spateren Alter kennen und kennt 
dann nicht seine Jugend; oder wenn man vielleicht auch die Jugend 
kennt, so vergifit man das, was sich vor vielen Jahren zugetragen hat. 
Anfang und Ende des Lebens zu betrachten in den Fallen, wo einem 
das moglich ist, das wiirde die schonste Bestatigung des Karmageset- 
zes schon im Dasein zwischen Geburt und Tod liefern. 

Dabei erinnern Sie sich vielleicht an etwas, was in den offentlichen 
Vortragen gesagt worden ist, zum Beispiel uber den Zorn, der als ein 
edler Zorn in der Jugend auftritt. Wir haben damals charakterisiert, 



wie ein junger Mensch nocht nicht durchschauen kann eine Unge- 
rechtigkeit, die sich in seiner Umgebung abspielt; sein Intellekt ist 
noch nicht reif genug dazu, urn eine Ungerechtigkeit, die sich ab- 
spielt, vollstandig zu durchschauen. Aber es ist durch die weise 
Weltenlenkung dafiir gesorgt, dafi wir ein Gefiihlsurteil haben, be- 
vor wir zu einem Verstandesurteil kommen konnen. Es regt sich bei 
einem guten Menschen, wenn die Anlagen dazu vorhanden sind, in 
der Kindheit, wenn eine Ungerechtigkeit vor sicht geht, ein edler 
Zorn, der einfach als Gefuhl da ist," und der das einzige ist, wodurch 
die Seele die Ungerechtigkeit empfinden kann. Die Ungerechtigkeit 
mit dem Intellekt zu durchschauen, dazu ist der Mensch noch nicht 
reif. Wenn diese edle Zornesregung aber im Charakter eines Men- 
schen vorhanden ist, dann sollen wir sie wohl beachten. Denn alles, 
was so als ein Gefiihlsurteil gegeniiber einer Ungerechtigkeit erlebt 
wird, das bleibt in der Seele. Dieser edle Zorn der Jugendjahre 
durchdringt die Seele und wandelt sich im Laufe des Lebens um. 
Und was sich so im Verlaufe des Lebens umwandelt, das tritt in 
einer anderen Gestalt in der zweiten Lebenshalfte wieder auf: Es tritt 
auf in einer Gefiihlsneigung zur liebenden Milde und zum Segnen. 
Es wandelt sich also der edle Zorn der Jugend, der ersten Lebenshalf- 
te um, so daft er im spateren Leben auftritt als liebende Milde, als 
segnende Gesinnung. Und wir werden nicht leicht finden - wenn 
alle anderen Dinge so stimmen, dafi nichts die Sache stort - , dafi in 
der zweiten Lebenshalfte des Menschen jene liebende, segenspenden- 
de Milde auftritt, ohne dafi sie sich nicht in den Jugendjahren ausge- 
driickt hat durch einen edlen Zorn, verursacht iiber Torheit, iiber 
Dummheit, iiber Hafilichkeit im Leben. So haben wir einen karmi- 
schen Zusammenhang im gewohnlichen Leben, und wir konnten 
ihn in ein Bild kleiden und sagen: Jene Hand, die sich nicht einmal 
auch in der ersten Lebenshalfte in edlem Zorn ballen konnte, wird 
sich nicht leicht zum Segnen ausstrecken konnen in der zweiten Le- 
benshalfte. 

Solche Dinge kann allerdings nur derjenige beobachten, der, wie 
gesagt, etwas weiter die Lebensbeobachtungen anstellt, als gerade sei- 
ne Nase reicht. Aber man tut das ja im gewohnlichen Leben nicht. 



Ich konnte an einem ganz trivialen Beispiel zeigen, wie wenig man 
dazu geneigt ist, solche Dinge im Leben zu beobachten. 

Ich habe schon ofter erwahnt: Fur denjenigen, der intime Lebens- 
erkenntnisse sich erwerben will, gerade um okkulte Seelenverhalt- 
nisse zu vertiefen, fiir den ist es aufierordentlich giinstig, zum Bei- 
spiel unter anderem als Erzieher durch bestimmte Jahre hindurch 
gewirkt zu haben. Da lernt man in ganz anderer Weise die Seelen 
kennen als durch die gewohnliche Schulpsychologie, die gewohnlich 
fiir eine Seelenerkenntnis ganz wertlos ist. Seelenerkenntnis eignet 
man sich an, wenn man die Seele nicht nur beobachtet, sondern 
wenn man das Leben anderer unter eigener Verantwortung Jahre fur 
Jahre selber zu leiten hat. Da lernt man auch intimer beobachten. 
Wahrend meiner langjahrigen Erziehertatigkeit konnte ich nicht nur 
diejenigen Kinder beobachten, welche mir gerade zur Erziehung an- 
vertraut waren, sondern Sie wissen ja, da kommen bei Gelegenhei- 
ten verschiedene Familien zusammen, und dabei lernt man auch an- 
dere Kinder kennen, nicht nur Kinder in den verschiedensten Le- 
bensaltern, sondern auch Kinder sozusagen von dem ersten Moment 
an, wo sie in die Welt treten. 

Es ist jetzt vielleicht funfundzwanzig bis dreifiig Jahre her, da hatte 
man eine bestimmte Zeitlang in der Medizin - bei der Sie vielleicht 
auch schon bemerkt haben, wie sie eine von fiinf zu fiinf Jahren ste- 
tig sich andernde Auffassung hat von dem, was dem Menschen «ge- 
sund» ist - eine ganz besondere Anschauung: namlich die Anschau- 
ung, dafi es besonders starkend ware fiir schwache Kinder, wenn 
man ihnen im Alter von drei, vier, fiinf Jahren taglich ein tiichtiges 
Glas Rotwein verabreicht. Ich habe Kinder gesehen, die dieses Glas 
Rotwein bekommen haben, und auch solche, die es nicht bekom- 
men haben. Ich konnte nun warten mit meinem Beobachten - denn 
selbstverstandlich, die Medizin ist ja zunachst unfehlbar; gegen sie 
etwas auszusprechen, wiirde unter den Vorurteilen einer jeweiligen 
Gegenwart gar nicht viel fruchten - , ich konnte also mit meinen Be- 
obachtungen warten. Die Kinder nun, welche damals von zwei bis 
fiinf Jahren zu ihrer Starkung taglich ihr Glas Rotwein bekommen 
haben, sind jetzt jiingere Leute von funfundzwanzig bis siebenund- 



zwanzig Jahren, und ich habe gefunden - denn ich habe wohl dar- 
auf geachtet, denn da erst zeigen sich die Wirkungen einer solchen 
Anschauung -, ich habe gefunden: alle die Kinder, welche ihren 
Rotwein bekommen haben, sind «Zappel-Philippe» geworden, ihr 
astralischer Leib zappelt, und sie konnen nicht viel mit ihm anfan- 
gen, sie wissen nicht, wie sie mit ihrem unwillkiirlich sich regenden 
Seelenleben sich zurechtfinden sollen. Diejenigen dagegen, welche 
damals «leider», wie man sagte, nicht mit jenem Glas Rotwein ge- 
starkt werden konnten, sind jetzt ganz in sich gefestigte Naturen ge- 
worden, die nun nicht so zappelig sind in ihrem astralischen Leib 
oder in ihrem Nervensystem, wie man es materialistisch ausdriickt. 

Da haben wir einen solchen Zusammenhang im Leben. Er ist ja 
ein trivialer, nicht ein besonders das Karma illustrierender, aber er 
ist ein solcher, an dem wir sehen, daft Lebensbeobachtung nicht 
blofi so weit gehen soil, wie unsere Nase reicht, sondern daft sie wei- 
tere Zeitraume uberschauen mufi, und daft es nicht genugt, wenn 
man einmal festgestellt hat: Dieses oder jenes Mittel wirkt so oder 
so. Denn dasjenige, was da eigentlich angeregt wird, kann der wirkli- 
che Beobachter erst nach vielen Jahren konstatieren. Nur die groften 
Lebenszusammenhange, und alles, was uns anweist, die groften Le- 
benszusammenhange zu suchen, kann uns in Wahrheit aufklaren 
iiber die Art, wie Ursache und Wirkung im Menschenleben zusam- 
menhangen. So mufi man versuchen, auch in bezug auf die eigentli- 
chen Seeleneigenschaften weiter auseinanderliegende Lebenserschei- 
nungen zusammenzuhalten. Dann kann man das Gesetz vom Karma 
auch schon zwischen Geburt und Tod sehen, dann findet man sehr 
haufig, wie die Ereignisse des spateren Alters zusammenhangen mit 
dem, was in der ersten Lebenshalfte erlebt worden ist. 

Erinnern Sie sich auch noch an das, was iiber die Mission der An- 
dacht gesagt worden ist, iiber die Wichtigkeit, mit dem Gefuhl der 
Verehrung hinaufschauen zu konnen zu irgendeinem Wesen, zu ir- 
gendeiner Erscheinung, die man noch nicht versteht, die man ver- 
ehrt gerade deshalb, weil man ihr mit dem Verstande noch nicht ge- 
wachsen ist. Und immer gern mache ich darauf aufmerksam, wie 
schon es ist, wenn der Mensch sich sagen kann: Ich habe einmal als 



Kind gehort von einem besonders verehrungswiirdigen Familien- 
mitgliede, das man ungeheuer verehrt hatte. Ich hatte es noch nicht 
gesehen, aber eine tiefe Ehrfurcht war in mir fur diese Person- 
lichkeit vorhanden. Dann wurde ich einmal, als die Gelegenheit 
gekommen war, zu diesem verehrten Familienmitgliede hingefiihrt. 
Und mit innerster, heiliger Scheu legte ich die Hand auf die Tur- 
klinke zu dem Zimmer, wo diese bedeutsame Personlichkeit erschei- 
nen sollte! 

Jenem Gefuhl andachtiger Verehrung wird man dankbar sein im 
spateren Leben, denn man verdankt ungeheuer viel dem, dafi man in 
der ersten Halfte des Lebens hat verehren konnen. Und andacht ige 
Verehrung ist ganz besonders gut in jedem Leben. Ich habe schon 
Menschen gekannt, die aufmerksam gemacht worden sind auf das 
Gefuhl andachtiger Verehrung gegeniiber einem Geistig-Gottlichen, 
und die dagegen einwandten: Ich bin Atheist, ich kann kein Geisti- 
ges verehren. - Solchen Menschen kann man sagen: Sieh dir einmal 
den Sternenhimmel an! Kannst du ihn machen? Sieh dir den weis- 
heitsvollen Bau an und denke dir: Da kann man hineinsenken ein 
Gefuhl wahrer echter Ehrfurcht! - Es gibt viel in der Welt, dem wir 
nicht mit dem Verstande gewachsen sind, aber zu dem wir vereh- 
rend aufschauen konnen. Und besonders in der Jugend ist viel vor- 
handen, zu dem wir andachtig hinaufschauen konnen, ohne dafi wir 
es zu erkennen vermogen. 

Andacht in der ersten Lebenshalfte verwandelt sieh nun wieder in 
eine ganz besondere Lebenseigenschaft in der zweiten Halfte. Wir 
haben wohl alle schon von Personlichkeiten gehort, die durch das, 
was sie sind, etwas wie eine Wohltat sind fur ihre Umgebung. Sie 
brauchen gar nicht etwas Besonderes zu reden, sie brauchen nur da 
zu sein. Es ist, wie wenn durch die ganze Art und Weise ihres We- 
sens etwas Unsichtbares von ihnen ausstromte und sieh den anderen 
Seelen mitteilte. Ihre ganze Art wirkt wohltuend und beseligend auf 
die Umgebung. Wem verdanken solche Menschen diese Kraft, durch 
ihre seelischen Eigenschaften wohltuend auf ihre Umgebung zu wir- 
ken? Dem Umstande verdanken sie es, dafi sie in der Jugend haben 
erleben diirfen ein Leben der Andacht, dafi sie viel Andacht gehabt 



haben in der ersten Lebenshalfte. Andacht in der ersten Lebenshalfte 
verwandelt sich in die Kraft, unsichtbar segnend und wohltuend zu 
wirken in der zweiten Lebenshalfte. 

Da haben wir wiederum einen karmischen Zusammenhang, der 
sich zwischen Geburt und Tod klar und deutlich ausdriickt, wenn 
man ihn nur beobachtet. Und im Grunde genommen war es aus 
einem schonen karmischen Gefiihl heraus gesprochen, als Goethe 
zum Motto eines seiner Werke die schonen Worte wahlte: «Was 
man in der Jugend wiinscht, hat man im Alter die F\ille!» - Freilich, 
wenn man nur kurze Zusammenhange im Leben beobachtet, wird 
man oft von unbefriedigten Wiinschen sprechen konnen; wenn man 
grofie Zusammenhange betrachtet, weniger. 

Alle diese Dinge, die so charakterisiert worden sind, konnen nun 
wiederum iibergehen in echte Lebenspraxis. Und im Grunde kann 
nur der, welcher das Leben so geisteswissenschaftlich ansieht, ein 
richtiger Erzieher sein. Denn er wird in der ersten Lebenshalfte dem 
Menschen dasjenige geben konnen, von dem er weifi, dafi dieser es in 
der zweiten Halfte anwenden kann. Heute weifi man nichts von je- 
ner Verantwortung, die man iibernimmt, wenn man dieses oder je- 
nes dem jungen Menschen einimpft. Aber heute ist es so gebrauch- 
lich geworden, iiber diese Dinge von oben herab zu sprechen, sozu- 
sagen von dem hohen Pferd des materialistischen Denkens aus iiber 
diese Dinge zu sprechen. Und ich mochte Ihnen diese eben getane 
Behauptung illustrieren durch eine kleine Erfahrung, welche hier in 
Berlin von uns selber gemacht worden ist. 

Da kam einmal ein Besucher, so einer, der glaubt, wenn er nur ein- 
mal, einmal im Leben, eine oder zwei Versammlungen sich anhort, 
dann hat er ein Urteil iiber die Sache. Insbesondere suchen solche 
Leute ein Urteil iiber ahnliche geistige Bewegungen, wie die unsere 
es ist, in der Art zu gewinnen, dafi sie nachher «sachgemafi» iiber die 
Sache schreiben konnen. Diejenigen, welche heute die Welt mit Zei- 
tungsartikeln versorgen wollen, sie haben gerade den Glauben, dafi 
man sich in dieser Weise ein Urteil iiber etwas verschafft. Man geht 
einmal hin, und dann weifi man, was los ist! - Dieser Besucher, den 
ich meine, der hat auch geschrieben, und es war putzig, als einmal in 



einer amerikanischen Zeitschrift iiber eine Zweigversammlung bei 
uns gelesen werden konnte. Naturlich war auch die Beschreibung 
recht merkwiirdig zutreffend. Aber wie gesagt: Was man geisteswis- 
senschafdich wirklich erfassen will, das kann man sich naturlich auf 
diese Weise durchaus nicht aneignen, sondern man mufi sich klar 
sein, dafi man nur dann in das spirituelle Leben hineinkommt, wenn 
man den Willen hat, die Einzelheiten wirklich mitzuerleben und 
durchzumachen. 

Nun habe ich das ganze nur erzahlt, um das Urteil des betreffen- 
den Besuchers zu charakterisieren, das er gefallt hat und mit dem er 
nicht hinter dem Berge gehalten hat. Dieser Besucher sagte: An der 
Geisteswissenschaft gefalle ihm das nicht, dafi sie alles so einteile; 
dafi man die Welt einteile in physische Welt, astralische Welt, deva- 
chanische Welt und so weiter. Warum solle man das tun, alles so ein- 
teilen? - Das hatte er alles aus ein oder zwei Besuchen. Wie er- 
schrecklich mufite es erst auf ihn gewirkt haben, wenn er auch noch 
die andern Einteilungen gehort hatte! Der betreffende Besucher war 
der Anschauung, man brauche nicht die Dinge so zu betrachten, 
sondern man rede «im allgemeinen» iiber die geistige Welt, warum 
soil man da erst in Klassen unterscheiden? - So redet man heute auf 
dem Gebiet der Erziehung, so redet man auf alien Gebieten des Le- 
bens, so redet im Grunde genommen auch die heutige Wissenschaft. 
Aus der Willkiir der Lebensbeobachtung, nicht aus der sachgemafien 
Erforschung der einzelnen Lebenserscheinungen redet die Welt her- 
um. Daher ist es auch so schrecklich, wie auf jemanden, der die Welt 
wirklich betrachten kann, solche Reformen und Programmreden 
wirken miissen, denn sie verursachen etwas, was man vergleichen 
kann mit einem furchtbaren physischen Schmerz. Man braucht heu- 
te nur ein gewohnliches wissenschaftliches Buch in die Hand zu neh- 
men. Da mogen die Beobachtungen noch so gewissenhaft ausgefuhrt 
sein, die Art und Weise, wie die Dinge dargestellt sind, ist einfach 
furchtbar, weil gar kein Begriff dafur vorhanden ist, wie die Erschei- 
nungen beobachtet werden sollen. Und so bewundert man heute 
auch mancherlei Menschen, die aus der Willkiir dies oder jenes, weil 
es ihnen gerade einfallt, in die Welt hinausschreien. 



Das gerade ist wichtig, daft sich der Anthroposoph das Bewufttsein 
aneignet, daft das Leben bis in die Einzelheiten genau nach jenen Me- 
thoden beobachtet werden sollte, welche uns das Karma und die an- 
deren Lebensgesetze fur die Lebenspraxis an die Hand geben. Daher 
konnen wir einen Segen fur die zukiinftige Entwickelung der 
Menschheit, auch in bezug auf Erziehungsfragen, nur dann erhoffen, 
wenn die anthroposophische Anschauung eindringt auch in die 
Grundsatze der Erziehung. Karma ist etwas, was zugleich eine feste 
Stutze gibt zum Beispiel fur alle Lebensbeobachtung, die auf Erzie- 
hung eingeht. 

Da ist es zum Beispiel unendlich wichtig, daft wir wissen, wie eine 
gewisse Erscheinung in der Erziehung karmisch zusammenhangt, 
die sich in der Ansicht ausdriickt: Wenn ein Kind sich richtig ent- 
wickelt, mufi es so oder so werden. Mir gefallt das fur das Leben! - 
Und jetzt denkt man, das Kind sei ein Sack, und da konnte man alles 
hineinstopfen, was man gerade fur das Richtige halt. Man pragt seine 
Wesenheit und was man selbst als Sympathie oder Antipathie emp- 
findet, dem Kinde auf. Wiirde man wissen, was das im karmischen 
Zusammenhange ergibt, so wiirde man die Sache anders ansehen. 
Man wiirde sehen, daft dasjenige, was so in das Kind wie in einen 
Sack hineingestopft worden ist, sich karmisch dahin erfullt, daft es 
den Menschen diirr und trocken macht, daft es das Kind friihzeitig 
altern macht und gerade das Zentrum seines Wesens ertotet. Wir 
miissen, falls wir ein Kind erziehen wollen, sozusagen indirekt an 
das Kind herantreten, wenn wir glauben, daft es diese oder jene Ei- 
genschaft sich aneignen soil. Da sollte man nicht dafur sorgen, diese 
oder jene Eigenschaft dem Kinde einzupfropfen, sondern man mufi 
zuerst ein Bediirfnis erregen fur diese Eigenschaft, ein Verlangen in 
dem Kinde erregen, diese Eigenschaft sich anzueignen. Wir miissen 
also dabei um einen Grad weiter zuriickgehen. Wir miissen sogar, 
wenn wir wissen, es ist einem Kinde dieses oder jenes als Speise gut, 
sie ihm nicht aufzwingen, sondern dafur sorgen, daft es zuerst Ge- 
schmack dafur empfindet, so daft es selbst diese Speise verlangt. Wir 
miissen Verlangen und Begierde regeln, damit das Kind von sich aus 
verlangt, was fur es gut ist. Das ist eine andere Art als die, alles wie in 



einen Sack hineinzupacken und zu sagen: Also hinein damit! - 
Wenn wir also zuerst die Bedurfnisse regeln, treffen wir den Lebens- 
kern des Kindes, und dann werden wir sehen, dafi sich das in der 
zweiten Halfte des Lebens karmisch erfullt, indem' der Mensch wie- 
derum Lebensfreude, Lebenskraft ausstrahlt, so dafi ein solcher 
Mensch in der zweiten Lebenshalfte nicht diirr und trocken ist, son- 
dern lebendig bleibt aus dem Zentrum seines Wesens heraus. 

Wenn wir so das Karmagesetz betrachten, werden wir uns sagen, 
es geniigt nicht, wenn wir in ein Biichelchen hineingeschrieben ha- 
ben: Es gibt ein Karmagesetz, einen Zusammenhang zwischen Frii- 
herem und Spaterem sondern wir miissen das Leben unter dem 
Gesichtspunkt des Karmagesetzes betrachten. Erst wenn man in die 
Einzelheiten des Lebens hinaufkommt, ist Anthroposophie in der 
wahren Gestalt da, dann mufi man aber auch den Willen haben, im- 
mer wieder und wieder zu arbeiten, das heifit, niemals wieder von 
ihr abzukommen. Man mufi Zeit finden, die Erscheinungen des 
Lebens in den Gesichtspunkt der Anthroposophie zu riicken. 

Das waren einige solche Gesichtspunkte, die Zusammenhange in- 
nerhalb des Lebens zwischen Geburt und Tod zeigen sollten. Nun 
konnen wir allerdings das Karmagesetz auch hinreichend verfolgen 
bis jenseits von Geburt und Tod, ein Leben mit dem anderen, oder 
den anderen verbindend. Was wir heute in diesem Leben zwischen 
Geburt und Tod erfahren, das miissen wir auch ankniipfen an Din- 
ge, die friiher von uns erlebt wurden, oder im spateren Leben von 
uns erlebt werden. Da konnten wieder unzahlige Einzelheiten ange- 
fuhrt werden. Ich mochte mich heute damit begniigen, eine wichtige 
Lebensfrage vom karmischen Gesichtspunkte aus zu beleuchten, in- 
sofern Karma hineinreicht von einem Leben in das andere, und zwar 
die Frage nach Gesundheit und Krankheit, und namentlich nach der 
letzteren. 

Es konnte mancher glauben, wenn er von irgendeiner Krankheit 
befallen wird, so ware es im Sinne des Karma richtig, zu sagen: Ich 
habe sie eben verdient, das ist mein Schicksal! - Aber damit allein ist 
das Karmagesetz gar nicht immer in der richtigen Weise charakteri- 
siert. Bei einer Krankheit miissen wir uns erst klar sein, worinnen 



eigentlich ihr Wesen, geistig erfaftt, liegt. Da tun wir gut, wenn wir 
uns zunachst einmal damit beschaftigen, worinnen zum Beispiel das 
Wesen eines Schmerzes besteht. Von da aus werden wir dann iiber- 
leiten konnen zu einem geistigen Verstandnis der Krankheit. 

Worinnen besteht das Wesen des Schmerzes? Wir wollen jetzt 
einen ganz aufteren physischen Schmerz betrachten, zum Beispiel, 
wenn wir uns m den Finger geschnitten haben. Warum schmerzt es? 
Wir werden niemals geistig uns iiber das Wesen des Schmerzes auf- 
klaren konnen, wenn wir nicht wissen, daft dieser physische Finger 
durchdrungen ist von einem Atherfinger und von einem astralischen 
Finger. Was nun der physische Finger darstellt, wie er geformt ist, 
wie das Blut in ihm flieftt, wie die Nerven verlaufen, das hat alles der 
Atherfinger geformt. Er ist der Bildner und besorgt heute noch im- 
mer, daft die Nerven in der entsprechenden Weise angeordnet sind, 
daft das Blut richtig flieftt und so weiter. Wie nun der Atherleib dar- 
an formt, das wird geregelt durch den astralischen Leib, der das Gan- 
ze durchdringt. Warum es uns nun schmerzt, wenn wir uns in den 
Finger geschnitten haben, das wollen wir uns durch einen aufteren 
Vergleich klarmachen. 

Nehmen Sie an, es ware eine Lieblingsbeschaftigung von Ihnen, je- 
den Tag einmal Ihre Blumen im Garten zu begieften, Sie fiihlen dar- 
in eine gewisse Befriedigung. Eines Morgens aber ist Ihre Giefikanne 
ruiniert oder gestohlen worden, und Sie konnen jetzt nicht Ihre Blu- 
men im Garten begieften. Sie sind dariiber betriibt. Das ist kein phy- 
sischer Schmerz; aber in der Entbehrung Ihrer Lieblingsbeschafti- 
gung konnen Sie so etwas wie einen physischen Schmerz empfinden. 
Sie konnen eine Tatigkeit, weil das Instrument nicht da ist, nicht 
ausiiben. Was hier aufterlich mangelhaft ist und was deshalb auch 
nur einen moralischen Schmerz hervorrufen kann, das wird zu 
einem physischen Schmerz durch folgendes. 

Der Atherleib und der astralische Leib sind darauf eingerichtet, 
dafi sie den Finger in der Art in Ordnung halten, wie er jetzt ist. Den 
Atherfinger und den astralischen Finger kann ich niemals zerschnei- 
den. Wenn ich meinen Finger entzweischneide, so geschieht das, daft 
der Atherfinger nicht mehr richtig eingreifen kann. Er ist gewohnt, 



den richtigen Zusammenhang des Fingers zu haben und dieser Zu- 
sammenhang ist jetzt gestort, ebenso wie vorher meine Tatigkeit, als 
ich den Garten begiefien wollte. Der astralische Leib und der Ather- 
leib konnen also nicht eingreifen, und das macht sich geltend im 
astralischen Leibe als Schmerz, als Entbehrung. Die gewohnten Ta- 
tigkeiten nicht ausiiben, in der gewohnten Weise nicht eingreifen zu 
konnen, das gibt sich im astralischen Leib als Schmerz kund. Im Au- 
genblick aber, wo der Atherleib und der astralische Leib nicht mehr 
richtig eingreifen konnen, macht sich auch eine grofiere Anstren- 
gung geltend. Geradeso wie wir in unserem Falle, wenn wir den Gar- 
ten begiefien wollen, Anstrengungen machen, die Giefikanne zu su- 
chen oder dergleichen, so miissen jetzt auch astralischer Leib und 
Atherleib eine grofiere Tatigkeit aufwenden, um die Sache wieder- 
um in Ordnung zu bringen. Und diese grofiere Tatigkeit, welche da 
aufgewendet werden mufi, ist das eigentlich Heilende. Da wird das 
Geistige zu einer energischeren Tatigkeit aufgerufen, und das ist das 
eigentlich Heilende. Dasjenige, was die geistigen Glieder des Men- 
schen zu einer groEeren Tatigkeit aufrufen kann, das bringt die Hei- 
lung hervor. Nun beruht jede Krankheit darauf, da£ durch irgend- 
eine Unordnung im physischen Leib oder auch im Atherleib des 
Menschen die geistigen Teile nicht in der richtigen Weise eingreifen 
konnen, sozusagen daran gehindert sind, und die Heilung besteht in 
der Aufrufung einer starkeren Widerstandskraft gegen die Unord- 
nung. Nun kann eine Krankheit entweder so verlaufen, daft sie ge- 
heilt wird, oder wir konnen daran sterben. Betrachten wir beide Fal- 
le einmal karmisch. 

Wenn die Krankheit so verlauft, dafi wir gesund werden, so haben 
wir in unsere Glieder, die wir uns aus friiheren Inkarnationen mitge- 
bracht haben, damals jene starken Lebenskrafte hineingelegt, die 
wirklich heilend eingreifen konnen. Und wenn wir auf unsere friihe- 
ren Inkarnationen zunickblicken, so konnen wir sagen: Wir waren 
damals nicht nur imstande, unseren Korper in der richtigen Weise 
zu versorgen durch das, was wir normalerweise im Leben haben, 
sondern wir haben uns noch einen Reservefonds mitgebracht, den 
wir herausholen konnen aus den geistigen Lebensgliedern. 



Nun nehmen wir an, wir sterben. Was ist dann der Fall? Dann 
werden wir sagen miissen: Wenn der Versuch gemacht worden ist 
zur Heilung, so haben wir auch die starkeren Krafte in uns aufgeru- 
fen. Aber sie reichten nicht aus, sie waren nicht hinlanglich. Aber 
immer, wenn wir Krafte aufrufen, so dafi sie sich stark geltend 
machen, ist es nicht nutzlos. Wir haben dazu in der Tat starkere An- 
strengungen machen miissen. Sind wir in diesem Leben noch nicht 
in der Lage gewesen, Ordnung herzustellen in irgendeinem Gebiete 
unseres Organismus, so sind wir wenigstens starker geworden. Wir 
haben Widerstand leisten wollen. Es hat nur nicht gereicht. Aber 
wenn es auch nicht gereicht hat, so geht es doch nicht verloren, was 
wir da an Kraften aufgerufen haben. Das geht mit hinuber in die 
nachste Inkarnation, und das betreffende Organ wird starker, als 
wenn wir die Krankheit nicht gehabt hatten. Und wir werden dann 
imstande sein, dasjenige Organ, das uns in diesem Leben vorzeitig zu 
Tode gebracht hat, mit einer besonderen Starke und Regelmafiigkeit 
auszubilden. Es wird also auch dann eine gunstigere Wirkung da 
sein, wenn wir bei richtiger Behandlung der Krankheit diese nicht 
zur Heilung bringen konnen. Karmisch miissen wir auch in diesem 
Falle in einer Krankheit etwas sehen, was sich im ferneren Leben in 
einer gunstigeren Weise ausleben kann. Im kommenden Leben kon- 
nen wir dann in diesem oder jenem Falle dadurch eine besondere 
Starke haben, dafi wir eine Krankheit zwar bekampften, aber sie 
nicht iiberwunden haben. Deshalb darf man aber nicht sagen: Dann 
ist es vielleicht gerade gut, die Krankheit zu lassen; denn wenn wir 
die Krankheit sich recht ausleben lassen und nicht heilend eingrei- 
fen, dann werden die Krafte in unserm Innern starker, und das Kar- 
ma wird sich um so besser erfiillen! - Das ware ein Unsinn. Es han- 
delt sich gerade darum, die Heilung so zu veranstalten, dafi mog- 
lichst gunstig die ausgleichenden Krafte eingreifen konnen; das heifk 
also, dafi wir so viel als nur moglich ist, zur wirklichen Heilung tun, 
ganz gleichgiiltig, ob eine Heilung eintritt oder nicht. Das Karma ist 
immer lebensfreundlich, niemals lebensfeindlich! 

Das Karmagesetz, wie es von einem Leben ins andere reicht, hat 
sich dadurch an einem besonderen Beispiel als lebensstarkend ge- 



zeigt. Und wir konnen sagen: Wenn wir auf diesem oder jenem Or- 
gan besonders stark sind, so weist uns das hin auf ein vorhergehen- 
des Leben, in welchem dieses Organ, in dem wir jetzt besonders 
stark sind, einmal besonders krank war. Wir haben es damals nicht 
ganz heilen konnen. Dafiir wurden aber die Krafte aufgerufen, wel- 
che dieses Organ jetzt als ein besonders starkes erscheinen lassen. - 
So sehen wir, wie aus einem Leben in das andere die Ereignisse, die 
Tatsachen, hineinreichen, wie unser Wesenskern immer starker und 
starker wird, wenn wir uns auch in der richtigen Weise bewufit sind, 
wie wir ihn starker machen konnen. Und wir konnen auf diese Wei- 
se immer mehr und mehr zu einem lebendigen Verstandnis unseres 
geistigen Wesenskernes durch das Karmagesetz kommen. 

Nun kommen wir zu einer Antwort auf die Frage: Warum ver- 
sammeln wir uns so oft? - Wir versammeln uns so oft, weil wir 
nicht nur unsere Erkenntnis bereichern wollen, wenn wir Lehren 
aufnehmen, sondern weil die Lehren, wenn sie in der richtigen Wei- 
se gegeben sind, geeignet sind, unseren Wesenskern immer starker 
und kraftiger zu machen. Wir giefien einen geistigen Lebenssaft in 
unsere Angelegenheiten, wenn wir zusammenkommen und uns mit 
Anthroposophie beschaftigen. So ist Anthroposophie nicht eine 
Theorie, sondern ein Lebenstrank, ein Lebenselixier, das sich uns 
immer wieder in die Seele giefk, und von dem wir wissen, es macht 
die Seele immer starker und immer kraftiger. Und wenn Anthropo- 
sophie nicht mehr das sein wird fiir die Menschen, was sie heute ist 
durch den Unverstand der aufteren Welt, wenn sie einmal eingreifen 
wird in unser ganzes geistiges Leben, dann werden die Menschen se- 
hen, wie das Heil, auch des physischen Lebens, des ganzen aufieren 
Lebens von der Starkung abhangt, die durch die anthroposophische 
Betrachtung, durch das anthroposophische Miterleben gewonnen 
werden kann. Es wird die Zeit kommen, wo solche anthroposophi- 
schen Versammlungen das wichtigste Starkungsmittel fur die Men- 
schen werden konnen, so dafi sie hinausgehen und sagen: Wir ver- 
danken das, was wir konnen, unsere Gesundheit, unsere Kraft im 
Leben, dem Umstande, dafi wir uns in unserem eigentlichen Wesens- 
kern, in unserem Wesenszentrum immer aufs neue starken! - Erst 



wenn die Menschen fiihlen: Anthroposophie gibt ihnen durch die 
Einzelbetrachtungen dasjenige, was sie bis in den physischen Leib 
hinein kraftvoll und gesund macht, erst dann werden sie fiihlen die- 
se Mission der Anthroposophie. Und heute sollen diejenigen, wel- 
che sich mit der Anthroposophie beschaftigen, sich als Pioniere be- 
trachten fur die Anthroposophie als etwas Lebenstarkendes! Dann 
wird sie erst das rechte sein und erst den richtigen Angriffspunkt 
gewinnen konnen gegen etwas, was heute so vielfach lebenschwa- 
chend ist. 

Da sei zum Schlufi noch auf eines aufmerksam gemacht. Man hort 
heute kein Wort ofter als das Wort «erbliche Belastung». Wie konn- 
te heute derjenige, der das Wort «erbliche Belastung» nicht minde- 
stens alle Wochen drei- oder viermal im Munde fuhrt, als ein gebilde- 
ter Mensch gelten? Ein gebildeter Mensch mufi doch mindestens 
wissen, daft die gelehrte Medizin festgestellt hat, was erbliche Bela- 
stung im Menschenleben bedeutet! Wer nicht sagen kann, wenn da 
oder dort jemand nichts mit sich anzufangen weifi, der Betreffende 
sei erblich belastet, der ist kein gebildeter Mensch, sondern irgend 
etwas anderes, und unter diesem anderen vielleicht auch ein Anthro- 
posoph. Hier beginnt das, wo die Wissenschaft des heutigen Lebens 
anfangt, nicht nur theoretisch zu irren, sondern wo sie anfangt, das 
Leben zu schadigen. Hier ist die Grenze, wo das Theoretische heran- 
kommt an das Moralische, wo es unmoralisch ist, eine falsche Theo- 
rie zu haben. Hier hangt die Lebenskraft, die Lebenssicherheit da- 
von ab, gerade das Richtige zu wissen. Wer sich starkt und kraftigt 
aus einer richtigen geistigen Anschauung in seiner Seele, indem er 
sich ein Lebenselixier zufuhrt, wozu wird der imstande sein? 

Was er auch vererbt erhalten haben mag, es sind Vererbungen im 
physischen Leibe, oder hochstens im Atherleibe. Durch seine richti- 
ge Lebensanschauung wird er sich in seinem eigentlichen Wesens- 
kern immer starker und starker machen und er wird besiegen, was 
erbliche Belastung ist, denn das Geistige, wenn es im richtigen Sinne 
vorhanden ist, ist imstande, das Kdrperliche auszugleichen. Wer sich 
aber nicht in seinem geistigen Wesenskern starkt, wer da sagt: Das 
Geistige ist nur ein Produkt des Korperlichen - , der ist dann, weil 



er kein starkes Inneres hat, ausgeliefert den erblichen Belastungen, 
bei dem mussen sie schadlich wirken. 

Es ist gar kein Wunder, dafi heme dasjenige, was man erbliche Be- 
lastung nennt, so furchtbare Wirkungen hat, weil man den Leuten 
erst die Macht der erblichen Belastung einredet und ihnen das 
nimmt, was dagegen wirkt. Man ztichtet erst den Glauben an die 
erbliche Belastung und nimmt dann dem Menschen mit einer geisti- 
gen Weltanschauung die beste Kampfmethode gegen die erbliche Be- 
lastung. Man erfindet erst die Allmacht der erblichen Belastung, und 
dadurch wirkt sie dann. Man hat nicht nur eine falsche Ansicht, die 
Lebensfeindliches zur Wirksamkeit bringt, die dem Menschen die 
Waffen aus der Hand windet, sondern hier beginnt eine Theorie, die 
ganz und gar auf materialistischen Anschauungen fufit. Hier beginnt 
eine materialistische Weltanschauung ins Moralische hineinzuspie- 
len und sie wirkt hier nicht blofi theoretisch falsch, sondern unmo- 
ralisch. Daruber kommt man auch nicht dadurch hinweg, daft man 
nur sagt: Diejenigen, welche solche Behauptungen aufstellen, irren 
eben. Man braucht nicht zu stark mit denjenigen ins Gericht zu ge- 
hen, die solche Theorien aufstellen. Die einzelnen Vertreter der Wis- 
senschaft sollen hier niemals getroffen werden, bei denen wird es 
verstanden; liebevoll kann es auch verstanden werden, daft sie darin- 
nenstecken, daft sie zu solchen Irrtumern kommen mussen. Der eine 
kann sich nicht aus einer wissenschaftlichen Tradition herauswin- 
den; bei dem anderen kann man es auch verzeihlich finden, denn er 
hat Weib und Kind und wiirde sich vielleicht in eine schiefe Lage 
bringen, wenn er sich nicht mehr zu den herrschenden Anschau- 
ungen bekennen wollte. Aber auf das Ganze als eine Zeiterschei- 
nung mufi aufmerksam gemacht werden, weil da die Wissenschaft 
anfangt, nicht nur falsche Theorien zu verbreiten, sondern dem 
Menschen die lebenfordernden Mittel aus der Hand zu winden, die 
als geistige Weltanschauung das Leben mit Kraft versorgen sollen, 
und die allein imstande sind, gegemiber der Macht, die sonst den 
Menschen iiberwaltigen muft, gegen das Physische aufzukommen. 
Dieses Physische ist nur so lange eine uberwaltigende Macht, solange 
der Mensch in seinem Geistigen keine Kraft dagegen ausbildet. Bil- 



det er diese Kraft aus, dann wird in ihm ein Kampfer gegen alles 
Physische erwachsen. 

Wir konnen das nicht von heute auf morgen erhoffen. Aber dieje- 
nigen, welche die Dinge im wahren Sinne verstehen, sie werden nach 
und nach kennenlernen die geisteswissenschaftliche Auffassung in 
bezug auf Erscheinungen, denen gegeniiber sich der Mensch zu- 
n*achst ohnmachtig zeigt. Was sich da nicht ausgleicht in einem Le- 
ben, das gleicht sich aus im Gesamtleben. Und wenn wir das einzel- 
ne Leben, wie auch das Leben von Verkorperung zu Verkorperung 
betrachten, dann wird das Karmagesetz, richtig verstanden, nicht ein 
Gesetz sein, das uns jetzt niederdriicken kann, sondern~ein Gesetz, 
das uns Trost und Kraft geben wird und uns immer starker machen 
wird. Ein Lebenskraftgesetz ist das Karmagesetz, und als solches sol- 
len wir es auffassen. Es handelt sich nicht darum, daft wir einzelne 
Abstraktionen wissen, sondern dafi wir die spirituellen Lebenswahr- 
heiten im einzelnen im Leben verfolgen, und dafi wir nie miide wer- 
den in der Erarbeitung der Geist-Erkenntnis, indem wir uns durch- 
dringen mit den Einzelwahrheiten der Geistesforschung. 

Wenn Sie sich das vor Augen halten, leben Sie im rechten Sinne 
anthroposophisch. Dann wissen Sie, warum wir uns nicht damit be- 
gniigen, dieses oder jenes Buch gelesen zu haben, sondern Anthropo- 
sophie als eine Herzensangelegenheit betrachten, die nicht aufhort, 
uns zu beschaftigen, auf die wir immer wieder gern zuriickkommen, 
und von der wir wissen, dafi, je ofter wir auf sie zuriickkommen, sie 
uns immer mehr und mehr Lebensbereicherung geben kann. 



DRITTER VORTRAG 



Berlin, 2. Februar 1910 



Durch ein jedes der Evangelien, so konnten wir bei einer unserer 
letzten Betrachtungen sagen, wird uns das grofie Geheimnis von 
Golgatha von einer besonderen Seite her dargestellt. Wir haben dar- 
auf aufmerksam gemacht, dafi das Markus-Evangelium das Geheim- 
nis von Golgatha, das Geheimnis des Christus Jesus, darlegt aus den 
grofien kosmologischen Zusammenhangen heraus, wahrend das 
Matthaus-Evangelium die Herausbildung dieses Geheimnisses dar- 
stellt aus einem Volkstum heraus, namlich aus dem althebraischen 
Volkstum. Wir haben gesehen, wie nach und nach sich dieses alt- 
hebraische Volkstum von Generation zu Generation seit der Zeit 
des Abraham entwickeln mufite, um dann als Bliite hervorzubringen 
dasjenige Menschenwesen, das in sich bergen konnte die Individuali- 
st des Zarathustra oder Zoroaster. Wir haben gesehen, wie alle die 
Eigenschaften des althebraischen Volkes, die sich nach und nach in- 
tensiver und intensiver gestalten mufiten, indem sie sich von Genera- 
tion zu Generation steigerten, auf dem Prinzip der physischen Ver- 
erbung beruhten. Damit haben wir den Unterschied gerade der Mis- 
sion des althebraischen Volkes von den Missionen anderer Volker 
charakterisieren konnen. Die Mission des althebraischen Volkes lag 
darin, daft es gewisse Eigenschaften zu vererben hatte, die eben nur 
auf dem Wege der physischen Vererbung von den altesten Genera- 
tionen aus der abrahamitischen Zeit bis herunter zu dem Jesus sich 
steigernd vererben mufiten. Das Matthaus-Evangelium birgt aber 
noch viele Geheimnisse, wie ja die anderen Evangelien auch. Und 
wenn wir auch im Laufe dieses Winters noch einzelne Ausblicke, 
einzelne Perspektiven in die Evangelien eroffnen, so kann doch das 
Verstandnis hochstens zunachst angeregt werden. Denn um die 
Evangelien vollstandig zu verstehen, ist eine schier nie zu endende 
geistige Arbeit notwendig. Heute soil von einer ganz bestimmten 
Seite her ein Licht zunachst auf das Matthaus-Evangelium geworfen 
und daran angeschlossen werden eine gewisse Nutzanwendung 



solcher Lehren, wie sie aus diesen Ausblicken folgen konnen fiir 
die heute in der anthroposophischen Geistesstromung stehenden 
Seelen. 

Wenn wir heute eine Art Ruckblkk tun auf mancherlei von dem, 
was wir im Laufe der Jahre gelernt haben, dann werden wir sagen 
konnen, daft diese Entwickelung der Menschheit, wie wir sie geistes- 
wissenschaftlich dargestellt haben, verschiedene Krisen durchmacht, 
an wichtige Punkte kommt, dann eine Weile fortgeht in einer gleich- 
mafiigeren Art, dann wiederum an einen wichtigen Punkt kommt 
und so weiter. Wir haben ja oft betont, daft ein solcher wichtigster 
Punkt in der Erdenentwickelung der Menschheit die Zeit ist, in wel- 
cher im Beginne unserer neuzeitlichen Zeitrechnung der Christus- 
Impuls gegeben worden ist. Wenn wir von da aus weiter zuriickge- 
hen, finden wir, verschiedenes iiberspringend, einen wichtigen 
Punkt, auf den wir immer wieder hingedeutet haben. Wenn wir die 
atlantische Zeit durchschreiten und in die lemurische Zeit zuriickge- 
hen, finden wir dort jenen Zeitpunkt, in dem die erste Anlage zum 
menschlichen Ich in die menschliche Wesenheit verpflanzt worden ist. 

Wenn so etwas verstanden werden soil, mussen die Worte ganz ge- 
nau genommen werden. Man mufi zum Beispiel genau unterschei- 
den, was da geschehen ist in der alten lemurischen Zeit, wenn gesagt 
wird: Damals ist die erste Anlage zum Ich in die Menschenwesenheit 
hineinversenkt worden -, und wenn gesagt wird: In der Zeit des 
Mysteriums von Golgatha begann die Periode, das Zeitalter, in dem 
sich die Menschheit dieses Ichs vollstandig bewuftt geworden ist. - 
Das ist ein bedeutsamer Unterschied: das Ich erst zu haben als Anla- 
ge, als etwas, was in dem Menschen arbeitet, oder mit seinem Wissen 
hingelenkt zu werden darauf, daft man dieses Ich hat. Diese Dinge 
muft man streng voneinander unterscheiden, sonst kommt man 
nicht zurecht mit den wirklichen Gesetzen der Entwickelung. 

Wir wissen, daft die Hineinverpflanzung des Ich in den Menschen 
begnindet ist in der Gesamtentwickelung der Erde. Die Erde ging 
durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit hindurch und wurde 
dann erst jenes Gebilde, das sie heute ist. Auf dem Saturn wurde die 
Anlage zum physischen Leibe gelegt, auf der Sonne zum Atherleibe, 



auf dem Mond zum astralischen Leibe, und auf der Erde ist die Anla- 
ge zum Ich hinzugekommen. Diese Anlage zum Ich wurde also in- 
nerhalb der Erdentwickelung gelegt in der lemurischen Zeit. Nun 
aber ging in diesem lemurischen Zeitalter noch etwas anderes vor 
sich, dasjenige namlich, was wir immer den luziferischen EinflufS ge- 
nannt haben. Es wurde also in jenem Zeitraum der Mensch auf der 
einen Seite begabt mit dem Keim zum Ich, der bestimmt war, im 
Laufe der folgenden Erdperioden immer weiter und weiter ausgebil- 
det zu werden, und gleichzeitig wurde dem astralischen Leib einge- 
impft der luziferische EinflufL Durch diesen luziferischen Einfluft 
wurde ja das gesamte Menschenwesen verandert, also auch alles am 
Menschen, was an Kraften, an Elementen im Atherleibe und im phv- 
sischen Leibe war. Der ganze Mensch wurde dadurch in der lemuri- 
schen Zeit eben ein anderer, als er geworden ware, wenn es keinen 
luziferischen Einflufi gegeben hatte. So haben wir also den Men- 
schen in der lemurischen Zeit in zweifacher Weise einen anderen 
werdend: Wir haben ihn werdend zu einer Ich-Wesenheit und aufter- 
dem werdend zu einem Wesen, das in sich selber birgt das luziferi- 
sche Prinzip. Wenn das luziferische Prinzip nicht gekommen ware, 
so ware der Ich-Einflufi deshalb doch eingetreten. 

Was ist nun am Menschenwesen dadurch geschehen, dafi sich der 
luziferische Einflufi in der lemurischen Zeit geltend machte? 

Wenn eine solche Sache von dieser oder jener Seite geschildert 
wird, so bitte ich Sie recht sehr, nehmen Sie eine solche Schilderurig 
niemals so, als ob gleich alles damit gegeben wurde; sondern es kann 
immer nur ein Gesichtspunkt herausgegriffen werden. Es ist im Lau- 
fe der Jahre schon viel gesagt worden, was alles durch den luziferi- 
schen EinflufS im Laufe der Entwickelung geschehen ist. Das alles ge- 
hort auch dazu, aber das konnen wir jetzt nicht wiederholen. Heute 
werden wir nur einen Gesichtspunkt herauszuheben haben, der uns 
eine bestimmte Seite charakterisiert. Dieser Gesichtspunkt besteht 
darinnen, dafi der Mensch durch diesen luziferischen Einfluft friiher 
zu einer Entwickelungsstufe gekommen ist, als es ihm eigentlich 
vorausbestimmt war, als es sozusagen in der weisen Weltenlenkung 
fur ihn vorgesehen war. Der Mensch ist durch den luziferischen Ein- 



flufi in seine drei von den friiheren Verkorperungen der Erde her- 
tibergekommenen Wesensglieder, in seinen astralischen Leib, in sei- 
nen Atherleib und in seinen physischen Leib tiefer hineingestiegen, 
ist mehr mit ihnen verstrickt worden, ais wenn es keinen luziferi- 
schen Einflufi gegeben hatte. Der Mensch ware mit seinem Ich sozu- 
sagen den geistigen Welten naher geblieben, hatte sich langer als ein 
Glied der geistigen Welt mit seinem Ich gefiihlt, wenn der luziferi- 
sche Einflufi nicht bewirkt hatte, dafi dieses Ich tiefer hineingestie- 
gen ist in astralischen Leib, Atherleib und physischen Leib. Der 
Mensch ist sozusagen tiefer auf die Erde heruntergestiegen in der le- 
murischen Zeit durch den luziferischen EinfTufi. 

Wir konnen den Zeitpunkt angeben, wann der Mensch - wenn es 
keinen luziferischen Einflufi gegeben hatte - so weit auf die Erde 
oder in die physische Materie heruntergestiegen ware als er in Wirk- 
lichkeit in der lemurischen Zeit heruntergestiegen ist durch den luzi- 
ferischen Einflufi: das ware in der Mitte der atlantischen Zeit gewe- 
sen. Mit anderen Worten: Ware kein luziferischer Einflufi gekom- 
men, so hatte der Mensch mit seinem Herabstieg auf die Erde bis in 
die Mitte der atlantischen Zeit warten miissen. Durch den luziferi- 
schen Einflufi ist er friiher heruntergestiegen. Dadurch ist er dazu ge- 
kommen, ein freies, aus seinen eigenen Impulsen heraus handelndes 
Wesen zu werden; denn er hatte sich sonst bis in die Mitte der atlan- 
tischen Zeit in vollstandiger Abhangigkeit von der geistigen Welt er- 
halten, hatte bis dahin niemals irgendwie selber entscheiden konnen 
zwischen dem Guten und dem Bosen, niemals irgendeinen freien Im- 
puls entfalten konnen, sondern hatte aus seelischen Instinkten her- 
aus gehandelt, das heifit aus Kraften heraus, welche die gottlich- 
geistigen Wesenheiten in seine Seele verpflanzt hatten. Aber die luzi- 
ferischen Wesenheiten haben ihm die Moglichkeit verschafft, friiher 
als sonst zu entscheiden zwischen dem Guten und Bosen, sich nicht 
blofi nach den Gesetzen der gottlich-geistigen Weltordnung instink- 
tiv lenken zu lassen, sondern selber zu entscheiden, sich selber eine 
Art Gesetzmafiigkeit zu machen. 

Diese Tatsache wird uns ja in tiefsinniger Weise ausgedriickt in der 
Schilderung des Sundenfalles, der in einer wunderbaren Imagination 



nichts anderes darstellt als das, was ich jetzt erzahlt habe. Das wird 
im Alten Testament dargestellt, indem gesagt wird: Es wurde einge- 
pflanzt dem Menschen die lebendige Seele von den gottlich-geistigen 
Wesenheiten. - Wenn diese lebendige Seele nun bloft so geblieben 
ware, hatte der Mensch jetzt warten miissen, bis spater durch die 
gottlich-geistigen Wesenheiten diese lebendige Seele, das heilk das 
noch unentwickelte Ich, reif geworden ware, die Entscheidungen zu 
treffen. Nun kommen die luziferischen Einfliisse, in der Bibel darge- 
stellt durch die Schlange. Dadurch kommt der Mensch dazu, nicht 
blofi instinktiv den Einstromungen des Jahve oder der Elohim zu 
folgen, sondern selber zu entscheiden iiber Gut und Bose. Aus einem 
Wesen, das bis dahin gelenkt und geleitet worden ist von den gott- 
lich-geistigen Wesenheiten, ist der Mensch dadurch zu einem Wesen 
geworden, das selbst entscheiden konnte. Das wird auch in der Bibel 
ganz klar dargestellt, dafi durch die Schlange, das heifit durch die lu- 
ziferischen Wesenheiten, die Selbstentscheidung des Menschen her- 
beigefuhrt worden ist. Und dann tonen Ihnen, von Gotterseite ge- 
sprochen, aus der Bibel die Worte entgegen: Der Mensch ist gewor- 
den wie einer von uns! - das heifk, von den Gottern. Oder wenn 
wir es radikal ausdriicken wollen: Der Mensch hat sich durch den lu- 
ziferischen Einflufi etwas angeeignet, was sich bis dahin nur fur Got- 
ter geziemt hat. Gotter haben die Entscheidungen getroffen iiber 
Gut und Bose, nicht diejenigen Wesen, die von den Gottern abhan- 
gig waren. 

Nun ist der Mensch durch den luziferischen Einflufi zu einem 
Selbstentscheider, das heilk, zu einem solchen Wesen geworden, das 
gottliche Eigenschaften zu friih in sich entwickelte. So ist auf diese 
Weise durch den luziferischen Einflufi etwas in die Menschennatur 
hineingekommen, was sonst aufbewahrt geblieben ware fur die 
menschliche Entwickelung bis in die Mitte der atlantischen Zeit. 
Nun konnen Sie sich denken, dafi der Mensch ein ganz anderer ge- 
wesen ware, wenn ihm dieser Herunterstieg in die Materie erst in 
der Mitte der atlantischen Zeit beschieden ge wesen ware, denn dann 
ware seine Seele reifer von diesem Herunterstieg getroffen worden. 
Er ware als ein besserer, als ein reiferer Mensch in der Materie ange- 



kommen. Er hatte also in alles Physische, Atherische und Astrali- 
sche andere Eigenschaften hineingebracht und ware ganz anders fa- 
hig geworden, zwischen dem Guten und dem Bosen zu entscheiden. 
Dadurch, dafi sich der Mensch von der lemurischen Zeit bis zur 
Mitte der atlantischen Zeit zu einem Entscheider zwischen Gut und 
Bose gemacht hat, dadurch hat er sich schlechter gemacht, als er 
sonst geworden ware, und kam dadurch in einem weniger vollkom- 
menen Zustand an. Er hatte die ganze Zeit bis zur Mitte der atlanti- 
schen Zeit sonst in einer viel geistigeren Art durchgemacht, so aber 
hat er sie materieller durchlaufen. Dadurch wurde aber jetzt be- 
wirkt, dafi, wenn dem Menschen das nicht hinzugegeben worden 
ware, was ihm die Gotter in der Mitte der atlantischen Zeit zuge- 
dacht hatten, er dann vollstandig heruntergef alien ware. 

Was ware dem Menschen in der Mitte der atlantischen Zeit gege- 
ben worden, wenn er bis dahin wie instinktiv von geistig-gottlichen 
Wesenheiten gelenkt und geleitet worden ware? 

Es ware ihm das gegeben worden, was ihm, nachdem der luziferi- 
sche Einflufi einmal da war, gegeben worden ist durch das Myste- 
rium von Golgatha! Der Christus-Impuls ware ihm in der Mitte der 
atlantischen Zeit gegeben worden. Jetzt mufke er aber, weil der luzi- 
ferische Einflufi da war, auf diesen Christus-Impuls so lange warten, 
als die Zeit betrug von dem luziferischen Einflufi bis zur Mitte der 
atlantischen Zeit. So viel Zeit fruher, als Luzifer vor der Mitte der 
atlantischen Zeit an den Menschen herangetreten ist, so viel Zeit spa- 
ter kam der Christus-Impuls. So haben wir dadurch, daft der Mensch 
sich seine Gottahnlichkeit fruher erworben hat als es hatte sein sol- 
len, eine Verzogerung des Christus-Impulses zu verzeichnen. Denn 
der Mensch muEte erst alles durchmachen, was ihm im Erdenkarma 
werden mulke fiir das, was in ihn Schlechtes hineingekommen war 
durch den luziferischen Einflufi. Das mufite erst sozusagen ausgelit- 
ten werden durch die Menschheit. Der Mensch mufite warten, bis 
nicht nur der luziferische Einflufi ihn zu einem Entscheider gemacht 
hatte zwischen Gut und Bose, sondern bis im Laufe der Erdenent- 
wickelung auch alles das eingetreten war, was als Folge dieses luzife- 
rischen Einflusses kommen mufke. Das mufke abgewartet werden. 



Dann erst konnte der Christus-Impuls auf die Erde herniedersteigen. 
Der Mensch sollte nicht etwa nach der weisen Lenkung der Welt 
dasjenige ewig entbehren, was ihm durch den luziferischen Einflufi 
geworden ist, sondern er hatte es in der Mitte der atlantischen Zeit 
erhalten sollen. Werden sollte es ihm also unter alien Umstanden. 
Allerdings in der Form, in der es ihm geworden ist durch den luzife- 
rischen Einflufi, ware es ihm im anderen Falle nicht geworden. 
Durch Luzifer hat der Mensch fur alles, was zusammenhangt mit 
geistigen Dingen, nicht nur die freie Entscheidung bekommen, son- 
dern auch die Fahigkeit, sich zu enthusiasmieren fur das Gute und 
Edle, Weise und Grofie. Wie wir als Menschen heute sind, konnen 
wir nicht blofi kalt, niichtern und trocken entscheiden zwischen 
Gut und Bose, sondern wir konnen auch fur das Schone, fur das 
Edle, Gute und Weise entflammt werden. Das ruhrt davon her, dafi 
in unseren astralischen Leib etwas hineingetragen worden ist, was 
sonst, wenn es erst in der Mitte der atlantischen Zeit dem Menschen 
zugekommen ware, nur in das Ich, in das urteilende Ich hineingetra- 
gen worden ware. Also alles, was wir an Gefuhlen, an Idealismus, an 
Entflammtsein haben fur das Gute, fur hohe Ideale, das verdanken 
wir dem Umstande, dafi in unseren astralischen Leib etwas hineinge- 
kommen ist, bevor uns die Gottahnlichkeit in unserm Ich, die Auf- 
nahme des Christus in unserm Ich zuteil geworden ist. Das ist das 
Wesentliche, dafi diese Gottahnlichkeit, diese Gottgleichheit, diese 
Moglichkeit, das Gute in sich selbst zu finden, iiber den Menschen 
kommen sollte. Ware der luziferische Einflufi nicht gekommen, so 
ware dieser Impuls in der Mitte der atlantischen Zeit gekommen; so 
ist er aber jetzt in der Zeit gekommen, in der der Christus Jesus eben 
gewirkt hat. 

Es ist also durch den Christus-Impuls in den Menschen das Be- 
wufitsein eingezogen, dafi er in seinem Ich etwas von gottlicher Sub- 
stanz und Wesenheit hat. Das liegt ja all den tieferen Ausspriichen 
auch des Neuen Testamentes zugrunde, dafi der Mensch in seine Ich- 
Wesenheit das Gottliche aufnehmen kann, und dafi dieses Gottliche 
darin wirken und Entscheidungen treffen kann zwischen Gutem 
und Bosem. Wir konnen daher sagen, mit der Aufnahme des Chri- 



stus-Impulses in das menschliche Innere kam iiber den Menschen die 
Moglichkeit, sich zu sagen: Ich bin mir Richtschnur fur die Erkennt- 
nisse meines Daseins, fiir die Entscheidungen iiber Gut und Bose. 

Wenn wir nun zuriickblicken auf die vorchristlichen Zeiten, miis- 
sen wir sagen: Da damals jener Impuls, der den Menschen zum wah- 
ren Entscheider macht zwischen Gut und Bose, noch nicht da war, 
so war die Entscheidung zwischen Gut und Bose, war das Urteil, die 
Erkenntnis iiber das Gute, Schone und Wahre in der vorchristlichen 
Zeit notwendig eine mangelhafte und eine solche, die sich nicht ei- 
gentlich aus dem Innersten des Menschen heraus ergeben konnte. 
Der Mensch hatte auch nicht die Moglichkeit, bevor der Christus- 
Impuls gekommen war, aus seinem innersten Wesen heraus iiber das 
Gute und das Bose zu entscheiden. Die Entscheidung iiber das richti- 
ge Gute, iiber das richtige Wahre, iiber das richtige Schone konnte in 
vorchristlichen Zeiten nur dadurch getroffen werden, dafi einzelne 
Individualitaten, wie die Bodhisattvas, mit einem Teile ihres Wesens 
im Laufe der Zeit hinaufreichten in gottlich-geistige Welten, also die 
Entscheidung iiber Gut und Bose nicht eigentlich aus dem Innersten 
der Menschennatur holten, sondern aus den gottlichen Welten. 
Durch ihren Verkehr mit gottlich-geistigen Wesenheiten bekamen 
sie es und flofiten es dann wie suggestiv der Menschenseele ein. 
Ohne solche Fiihrer hatten die Menschen in den vorchristlichen Zei- 
ten immer nur mangelhafte Entscheidungen treffen konnen iiber 
Gut und Bose. Wenn sich diese Fiihrer auf ihr eigenes Herz verlassen 
hatten, so hatten sie es auch nicht gekonnt; nur dadurch, dafi sie her- 
unterstiegen in die Tiefen der Seele, die dem Menschen noch nicht 
beschert waren, dadurch, dafi sie aus ihrer eigenen Ich-Wesenheit 
herausgingen in die Reiche der Himmel, bekamen sie die Impulse, 
welche die Menschen brauchten, um in der Zeit des mangelhaften 
Entscheidens iiber Gut und Bose dennoch das Gute vorbereitend auf 
die Erde zu verpflanzen. 

So war der Mensch in der vorchristlichen Zeit ein Wesen, welches 
sich fiir noch nicht geniigend gereifte Eigenschaften die Gottgleich- 
heit angeeignet hatte, fiir etwas, was noch gar nicht dazu geeignet 
war, die Gottgleichheit zu haben. Dadurch hat der Mensch seit der 



lemurischen Zeit alles, was er getan hat, schlechter, mangelhafter 
getan, als er es sonst getan haben wiirde. Vor alien Dingen hat er 
durch den luziferischen Einfluft in der vorchristlichen Zeit dasjenige 
schlechter und mangelhafter getan, was sich auf ihn selbst bezieht. 
Seinen astralischen Leib, Atherleib und physischen Leib, die sonst 
geistiger geblieben waren, wenn nicht der luziferische Einflufi 
gewirkt hatte, hat er dadurch, dafi das alles so gekommen ist, 
schlechter, materieller gestaltet. Dadurch sind aber auch alle Ubel in 
das Menschenleben gekommen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt 
haben. Im Laufe einer langen Zeit haben sie sich entwickelt. 

Von der lemurischen Zeit bis zum Mysterium von Golgatha ha- 
ben sich im physischen Leibe, im Atherleib und im astralischen Lei- 
be Ubel entwickelt. Im astralischen Leibe hat sich ein hochgradiger 
Egoismus entwickelt, im Atherleibe haben sich entwickelt die Mog- 
lichkeiten des Irrtums, wenn wir irgend etwas beurteilen wollen, 
und die Moglichkeit der Luge. Wenn der Mensch unter dem Einflufi 
gottlich-geistiger Wesenheiten geblieben ware, instinktiv nach ihren 
Impulsen gehandelt hatte, so wiirde er, wenn er sich heute Erkennt- 
nisse wiirde erwerben wollen iiber die Umwelt, weder in Irrtum ver- 
fallen konnen, noch zur Luge verfiihrt werden konnen; so aber ist 
der Hang zur Luge und die Gefahr des Irrtums in die menschliche 
Entwickelung hineingekommen. Und weil das Geistige immer der 
Verursacher ist des Physischen, und weil der luziferische Einflufi 
und dessen Folgen sich von Inkarnation zu Inkarnation immer mehr 
hineingefressen haben in den Atherleib, so ist dadurch in den physi- 
schen Leib hineingekommen die Moglichkeit zur Erkrankung. 
Krankheit ist das Ubel im physischen Leibe, das durch diese Entwik- 
kelung gekommen ist. 

Aber etwas noch Bedeutsameres ist gekommen. Ware der Mensch 
nicht diesen Einfliissen unterlegen, hatte er sie nicht auf sich wirken 
lassen, so ware auch nicht das Bewufitsein gekommen, dafi in dem 
Moment, wo der physische Leib von uns abfallt, irgend etwas ande- 
res geschieht, als eine Verwandlung im Leben: Das Bewufitsein des 
Todes ware nicht gekommen. Denn wenn der Mensch weniger tief 
in die Materie heruntergestiegen ware und die Faden, die ihn mit 



dem Gottlich-Geistigen verkniipfen, "behalten hatte, so wiirde er ge- 
wufit haben, dafi mit dem Ablegen der physischen Hiille eben nur 
eine andere Form des Daseins beginnt. Er hatte es nicht angesehen 
als das Verlieren, als das Ende einer ihm lieb gewordenen Existenz. 
Also alle Dinge in der Entwickelung wiirden ein anderes Gesicht be- 
kommen haben. 

Weil der Mensch nun tiefer hinuntergestiegen ist in die Materie, 
hat er sich dadurch freier und unabhangiger gemacht, aber er hat 
auch seine Entwickelung zu einer mangelhafteren gemacht, als sie 
sonst geworden ware. 

Das alles, was im Menschen mangelhaft geworden ist, wird durch 
den Christus-Impuls wiederum geheilt. Nur verlange man nicht, dafi 
es geheilt werde in einer wesentlich kiirzeren Zeit, als es bewirkt 
worden ist, oder gar in einer sehr kurzen Zeit. Die Zeit von der le- 
murischen Epoche bis zum Mysterium von Golgatha ist eine sehr 
lange. Und langsam und allmahlich, von Verkorperung zu Verkor- 
perung wirkend, sind gekommen Egoismus, Irrtum und Luge, 
Krankheit und Todesgefuhl. Dadurch, dafi der Christus-Impuls in 
der Menschheit wirkt, werden in einer aufsteigenden Entwickelung 
des Menschen diese Eigenschaften alle wiederum zuriickverwandelt. 
Der Mensch wird sozusagen mit seinen Fahigkeiten, die er sich un- 
ten erworben hat, zuruckgefuhrt in die geistige Welt. Es wird sogar 
schneller geschehen, als der Herunterstieg vor sich ging. Aber man 
verlange nicht, dafi der Mensch in ein oder zwei Inkarnationen 
durch das, was er durch den Christus-Impuls aufnehmen kann, im- 
stande sein wird, die Selbstsucht zu besiegen, sich in seinem Ather- 
leib so zu heilen, daft keine Gefahr fiir Luge und Irrtum mehr da wa- 
ren, noch dafi er gar bis in seinen physischen Leib hinein gesundend 
wirken konne. Das mufi langsam und allmahlich geschehen. Aber es 
geschieht. Gerade so, wie durch den luziferischen Einflufi der 
Mensch heruntergefuhrt worden ist zu all den geschilderten Eigen- 
schaften, ebenso wird er wieder heraufgefuhrt werden durch den 
Christus-Impuls: Es wird die Selbstsucht in Selbstlosigkeit umge- 
wandelt werden, die Lugenhaftigkeit wird zur Wahrhaftigkeit, die 
Gefahr des Irrtums wird zur Treffsicherheit und zur Wahrheit des 



Urteils werden. Krankheit wird zu einer Unterlage fur eine um so 
grofiere Gesundheit werden. Jene Krankheiten, die wir iiberwunden 
haben, werden die Keime zu einer hdheren Gesundheit sein. Und 
wenn der Tod allmahlich so begriffen wird, daft der Tod auf Golga- 
tha in unserer Seele selber als das Vorbild des Todes wirkt, dann 
wird der Tod seinen Stachel verloren haben. Der Mensch wird wis- 
sen, warum er von Zeit zu Zeit seine physische Hiille ablegen mufi, 
um immer hoher zu dringen im Laufe der Verkorperungen. Was 
aber insbesondere durch den Christus-Impuls eingetreten ist, das ist, 
daft der Anstoft gegeben worden ist, etwas gut zu machen, was insbe- 
sondere die menschliche Erkenntnis und die menschliche Beobach- 
tung, das Wissen des Menschen von der Welt betrifft. 

Wir haben gesagt, daft der Mensch mehr in die Materie hineinver- 
strickt worden ist, sich in seinen drei Leibern mangelhafter gemacht 
hat, als er geworden ware, wenn kein luziferischer Einfluft gekom- 
men ware. Dadurch ist der Mensch erfaftt worden von einem An- 
trieb, immer tiefer hinunterzusteigen in das materielle Dasein, im- 
mer griindlicher hineinzusausen in das blofte Materielle. Das ist ihm 
insbesondere mit seiner Erkenntnis passiert. Aber auch das ist lang- 
sam und allmahlich gekommen. Nicht gleich, als der luziferische 
Einfluft gewirkt hat, ist der Mensch sozusagen so tief heruntergesun- 
ken, daft er nun alle Tore nach der geistigen Welt hinter sich zuge- 
schlossen gehabt hatte. Der Mensch war noch lange in Verbindung 
mit der geistigen Welt, aus der er herausgewachsen ist, und in der er 
geblieben ware mit seinem ganzen Wesen, wenn der luziferische Ein- 
fluft nicht gekommen ware. Noch lange ist der Mensch dieser geisti- 
gen Welt teilhaftig geblieben, er fuhlte noch lange, wie in seine feine- 
ren geistigen Instinkte hineinfuhrten die Faden der gottlich-geistigen 
Welt. Er handelte noch lange Zeit so, daft der Impuls nicht ein bloft 
menschlicher war, sondern ein solcher, wie wenn die Gotter hinter 
ihm gewirkt hatten. Das war besonders in den altesten Zeiten so. 
Erst langsam wurde der Mensch hineingestofien in das Materielle, 
und damit verlor er dann auch das Bewufitsein des Gottlichen. 

Diejenigen Geistesstromungen und Weltanschauungen in der 
Menschheit, die ein Wissen von diesen Dingen gehabt haben, haben 



daher immer darauf hingedeutet: Es hat ein altes Zeitalter gegeben, 
da war der Mensch zwar durch den luziferischen Einflufi schon et- 
was heruntergestofien ins materielle Dasein, aber doch noch nicht so 
weit, als dafi nicht dieser gottliche Einflufi noch stark in ihm gewirkt 
hatte. Dieses Zeitalter nannte man in alten Zeiten der Menschheits- 
entwickelung das goldene Zeitalter. Das ist nicht irgendein Phanta- 
sieprodukt, sondern der Ausdruck «goldenes Zeitalter» ist einfach 
ein Ausdruck, welchen diejenigen Bekenner gebraucht haben, die in 
alteren Zeiten noch eine Ahnung davon hatten, dafi es so etwas wie 
eine Urzeit der Menschheit, wie sie eben geschildert wurde, einmal 
gegeben hat. Dieses goldene Zeitalter, das man mit einem Ausdruck 
der orientalischen Philosophic als «Krita Yuga» bezeichnet, hat ver- 
haltnismaftig von all den Zeitaltern, die wir noch charakterisieren 
werden, am langsten gedauert. 

Nach diesem goldenen Zeitalter kommt dann das sogenannte sil- 
berne Zeitalter. Da war der Mensch schon mehr heruntergestofien 
in die physische Welt. Aber alles geschah langsam und allmahlich. Es 
waren auch jetzt noch nicht die Tore gegeniiber der geistigen Welt 
ganz zugeschlossen. Der Mensch hatte noch starke Momente, in de- 
nen er wie in einem traumhaften Hellsehen die Gotter treibend hin- 
ter seinen Instinkten merkte. In diesem silbernen Zeitalter konnte 
man den Menschen zwar nicht mehr einen Genossen der Gotter 
nennen, aber er merkte noch, daft Gotter hinter ihm standen. Dieses 
Zeitalter wird mit einem Ausdruck der orientalischen Philosophie 
auch «Treta Yuga» genannt. 

Dann kommt ein Zeitalter, das geht hinein bis in unser nachatlan- 
tisches Zeitalter; es erstreckt seine letzten Auslaufer bis in histori- 
sche Zeiten hinein, wo es noch immer Menschen gegeben hat, mit al- 
tem traumhaftem, dammerhaftem Hellsehen begabt. Aber das Be- 
wuiksein von der geistigen Welt, aus der der Mensch herausgewach- 
sen war, war in diesem Zeitalter nur noch wie eine Art Erinnerung 
vorhanden, die ge blieb en war aus fruheren Inkarnationen. Es war 
so, wie wenn Sie sich heute Ihre Jugend, Ihr Kindesalter und Ihr jet- 
ziges Lebensalter denken. In unserer Kindheit haben wir die Kind- 
heitserlebnisse unmittelbar erlebt, so haben die Menschen noch im 



Treta Yuga unmittelbar die Impulse der gottlich-geistigen Welt er- 
lebt. In dem Zeitalter, das dann darauf folgte, das man auch das eher- 
ne Zeitalter nennt, da war nur mehr etwas wie eine Erinnerung dar- 
an vorhanden. Man konnte es vergleichen mit der Art, wie der er- 
wachsene Mensch seine Kindheit betrachtet. Denn Sie werden sagen: 
Ich habe meine Kindheit erlebt, es ist kein Traum! So war es in dem 
dritten Zeitalter, da wufken die Menschen: Wir haben in fruheren 
Zeiten den Zusammenhang mit dem Gottlichen erlebt, aber jetzt ist 
er nur noch wie eine Erinnerung da. - Ich habe ausfuhrlich gezeigt, 
wie in der altindischen Kultur die Erinnerung an die atlantische Zeit 
nachwirkte; daher konnten die heiligen Rishis, weil diese Erinne- 
rung noch nachwirkte, auch gerade damals ihre grofien gottlichen 
Lehren verkiindigen. Dieses eherne Zeitalter wird in der orientali- 
schen Philosophic als «Dvapara Yuga» bezeichnet. 

Danach kommt ein Zeitalter, in dem die Erinnerung an die gott- 
lich-geistige Welt verlorengeht, wo der Mensch mit seinem Erken- 
nen und Anschauen ganz herausgesetzt wird in die physische Welt. 
Dieses Zeitalter beginnt etwa mit dem Jahre 3101 vor unserer Zeit- 
rechnung, vor der Geburt des Christus Jesus, und man nennt es auch 
mit einem Ausdruck der orientalischen Philosophic «Kali Yuga», das 
finstere Zeitalter, weil da der Mensch alle Zusammenhange mit der 
geistigen Welt verloren hat und vollstandig zusammengewachsen ist 
mit der physischen Welt. 

Ich bemerke ausdriicklich, dafi ich diese Ausdriicke jetzt ge- 
brauche fiir kleinere Zeitabschnitte; man kann sie aber auch aus- 
dehnen iiber grofiere Zeitraume. Wir sprechen also von jener Auf- 
fassung der Zeitalter, wie sie zunachst den kleineren Zeitaltern ent- 
sprechen, und lassen Kali Yuga beginnen, wie es die indische Philo- 
sophic lehrt, mit dem Jahre 3101 vor unserer Zeitrechnung. Da be- 
reitet sich jener Zeitraum vor, in welchem die Menschen angewie- 
sen werden, nur dasjenige zu sehen, was wie ein Schleier, wie eine 
Hiille die gottlich-geistige Welt verbirgt, wo sie nur das aufiere 
Physisch-Sinnliche wahrnehmen. Zwar sind im Anfange des Kali 
Yuga noch viele Menschen vorhanden, die hineinschauen oder sich 
erinnern konnen an die gottlich-geistige Welt, aber fur die normale 



Menschheit beginnt jetzt die Zeit, wo sie nur noch Physisch-Sinnli- 
ches wahrnimmt. 

Das war das Heruntersteigen der Menschen bis zu einem Kali 
Yuga. Das war die Zeit des tiefsten Herunterstieges. Da hinein mufi- 
te der Impuls fallen, wieder hinaufzusteigen. Daher kommt der Im- 
puls wieder hinaufzusteigen, der Christus-Impuls, im Kali Yuga, im 
finsteren Zeitalter. 

Dieser Christus-Impuls war vorbereitet worden durch die Jahve- 
oder Jehova-Religion. Denn durch die Jahve-Religion war der 
Mensch aufmerksam gemacht worden auf das Mangelhafte seiner 
friiheren Entscheidungen. Wahrend des Zeitraumes von der alten le- 
murischen Zeit bis zur Yerkiindigung auf dem Sinai haben wir ja je- 
nes Zeitalter, wo der Mensch zwar zu einem Selbstentscheider wird 
iiber Gut und Bose, wo er auf der anderen Seite aber auch in Irrtum 
verfallt iiber das Bose und Gute und immer mehr dasjenige auf die 
Erde bringt, was in der Bibel die Siinde genannt wird. Da frifk sich 
die Siinde ein in das Erdenleben. Der Mensch hat sich die Gott- 
gleichheit angeeignet, aber er hat sie fur Eigenschaften in Anspruch 
genommen, die durchaus nicht reif waren fur die Gottgleichheit. 
Was mufke nun geschehen? 

Zunachst mulke dem Menschen gezeigt werden, was die Gottheit 
von ihm verlangt, wenn er ein selbstbewufkes Ich werden sollte. 
Und das wurde ihm gezeigt durch die Verkundigung auf dem Sinai, 
durch die Verkundigung der Zehn Gebote. Da horten die Menschen 
durch Moses: Was du bisher entwickelt hast iiber Gut und Bose, das 
ist mangelhaft. Ich zeige dir, wie die Gesetze lauten wiirden, wenn 
du nicht heruntergestiegen warest und fur deine mangelhaften Ei- 
genschaften die Entscheidung iiber Gut und Bose in Anspruch ge- 
nommen hattest! - So steht das Gesetz vom Sinai, der Dekalog, zu 
dem, was der Mensch geworden war, so dafi ihm heruntertont aus 
den geistigen Welten, was das Richtige ware gegenuber dem, was er 
als mangelhaft ausgebildet hat. Als ein ehernes Gesetz stehen die 
Zehn Gebote da, als eine Fackel, welche dem Menschen anzeigt alles, 
was er nicht geworden ist. Er soli sich diesem Gesetz unterwerfen 
mit all dem, was er geworden ist. Der Mensch konnte sich diese 



Zehn Gebote zunachst nicht selbst geben, weil er in seinem Ent- 
scheiden, in seiner eigenen Gesetzgebung mangelhaft geworden war. 
Daher muflten ihm die Zehn Gebote durch einen Inspirierten, durch 
Moses gegeben werden, das heifit durch gottliche Eingebung von 
oben. Aber sie waren so gegeben, dafi sie alle auf das Ich gerichtet 
waren. Sie sagten dem Menschen, wie sich ein Ich benehmen mufi, 
wenn es das Ziel der Menschheit erlangen soil. 

In dem Vortrag iiber die Zehn Gebote des Moses, am 16. Novem- 
ber 1908, ist das im einzelnen ausgefuhrt worden. Da ist gezeigt wor- 
den, wie das Ich zunachst sich benehmen soli zu den geistigen Wel- 
ten, in den ersten drei Geboten, wie es sich verhalten soil zu den 
Mitmenschen in bezug auf seine Taten und Handlungen, in den 
nachsten Geboten und wie es sich benehmen soil in bezug auf seine 
Empfindungen und Gefiihle, in den letzten Geboten. Die Erzie- 
hung, die Kultur des Ich wird befohlen in den Zehn Geboten. Das 
war die Vorbereitung dafur, dafi das Ich in seinem Innersten lernen 
sollte, sich selber den Impuls zu geben, nachdem es in das Kali Yuga, 
bis in das finstere Zeitalter hinuntergestiegen ist. Es sollte den Men- 
schen zunachst vorgefuhrt werden ein Gesetz von oben. Was das 
Gesetz des eigenen Ich werden sollte, das konnte es aber nur werden, 
wenn das Ich das grofie Vorbild von Golgatha in sich aufnahm, 
wenn das Ich sich sagte: Wenn ich in meine Seele ein solches Denken 
aufnehme, wie das Wesen gedacht hat, das sich auf Golgatha geopfert 
hat, wenn ich ein solches Fiihlen in mich aufnehme, wie das Wesen 
gefiihlt hat, das sich auf Golgatha geopfert hat, wenn ich ein solches 
Wollen in mich aufnehme, wie das Wesen gewollt hat, das sich auf 
Golgatha opferte, dann wird mein Wesen in sich selber die Entschei- 
dung finden, wird die Gottgleichheit immer mehr und mehr entwik- 
keln, wird nicht mehr blofi zu folgen haben einem aufieren Gesetz, 
den Zehn Geboten, sondern einem inneren Impuls, seinem eigenen 
Gesetz! 

So hat Moses zunachst das Gesetz hingestellt vor den Menschen, 
der Christus aber das Vorbild und die Kraft, welche die Seele aufneh- 
men sollte, um sich zu entwickeln. Daher mufite alles bis zur Inner- 
lichkeit vertieft werden durch den Christus Jesus, alles bis in die tief- 



ste Seek hineingetragen werden, was an geistigen Impulsen da war, 
bis in das Ich selber. Das konnte nur geschehen, wenn folgendes ge- 
dacht wurde, wenn der Christus Jesus folgendes als einen Impuls 
ausstreute. 

Der Mensch ist heruntergestiegen bis in das finstere Zeitalter, bis 
in das Kali Yuga. Vor diesem finsteren Zeitalter haben die Menschen 
hineingesehen im dumpfen, dammerhaften Hellsehen in die geistige 
Welt. Da haben sie sich nicht bloft der Instrumente des physischen 
Leibes bedienen konnen, sondern indem sie durch ihre Augen, Oh- 
ren und so weiter die physische Welt beobachtet haben, ist ihnen 
iiberall ein Geistiges erschienen: um Blumen, Pflanzen, Steine und 
so weiter. Diese Menschen waren reich in bezug auf ihre Beobach- 
tung an Geist. Der Geist wurde ihnen in alten Zeiten geschenkt. 
Jetzt, in dem finsteren Zeitalter, sind sie Bettler geworden in bezug 
auf den Geist, denn der Geist wurde ihnen jetzt nicht mehr ge- 
schenkt. Arm sind sie geworden an Geist. Immer mehr und mehr 
war das Kali Yuga herangekommen, wo die Menschen sich sagen 
mufiten: In den alten Zeiten war es anders; da wurde der Geist den 
Menschen noch geschenkt, da konnten sie hinaufschauen in eine 
geistige Welt, da waren sie reich an Geist, da waren ihnen die 
Reiche der Himmel zuganglich. Jetzt aber sind die Menschen her- 
untergedrangt worden in die physische Welt. Geschlossen haben 
sich die Tore zu der geistigen Welt vor den menschlichen Sinnen, 
und der physische Leib eroffnet keine Aussicht in die Reiche der 
Himmel. 

Aber der Christus konnte sagen: Ergreift das Ich da, wo ihr es jetzt 
ergreifen sollt, dann sind die Reiche der Himmel nahe herbeigekom- 
men. In eurem Ich werden sie aufgehen! Wenn auch eure Augen 
euch hinter dem aufieren sinnlichen Licht verschliefien das geistige 
Licht, wenn auch eure Ohren euch hinter dem physischen Ton den 
geistigen verschlieften, wenn ihr zu dem Christus selber euch erhebt, 
werdet ihr in euch finden die Reiche der Himmel! - Unselig waren 
die, welche durch das finstere Zeitalter arm geworden waren, Bettler 
geworden waren um Geist. Selig konnten sie jetzt werden, nachdem 
der Impuls gegeben war, dafi bis in das menschliche Ich hinein der 



Christus dringen konnte, diejenige Wesenheit, welche ihnen Kunde 
geben konnte von dem Geistigen, von den Reichen der Himmel. So 
ist in bezug auf die Verarmung des Menschen an Geist die hochste 
christliche Verkiindigung die: Selig konnen von jetzt ab sein diejeni- 
gen, die da Bettler sind um Geist, die nicht mehr den Geist geschenkt 
bekommen durch eine alte Anschauung; selig konnen sie doch wer- 
den von jetzt ab, wenn sie den Christus-Impuls aufnehmen; dann 
konnen ihnen selber werden durch die Entwickelung ihres Ich die 
Reiche der Himmel! 

Gehen wir zum Atherleib, der der Bildner des physischen Leibes 
ist. Was ist in ihn hineingekommen? - Im physischen Leibe driickt 
sich die Krankheit nur aus. Das Leiden selbst ist zuerst im Atherlei- 
be, und das Leid im Atherleibe driickt sich in einer spateren Inkarna- 
tion im physischen Leibe in der Krankheit aus. Jetzt aber ist etwas in 
die Welt gekommen, so hatte der Christus Jesus zu sagen, wodurch 
im Innern ein Impuls aufgehen kann, um nach und nach hinwegzu- 
raumen das Leid aus dem Atherleib. Selig konnen jetzt, wenn sie den 
Christus-Impuls in sich aufnehmen, diejenigen werden, die das Leid 
in ihrem Atherleibe verankert haben; denn es ist etwas in ihnen, wo- 
durch sie das uber das Leid Hinausfiihrende, den Innentrost finden, 
den inneren Paraklet, den inneren Troster finden! 

Und was war durch den luziferischen EinflufS aus dem astralischen 
Leib geworden? Er war mangelhafter geworden, als er friiher war. 
Er hat die Moglichkeit, die wir als eine gute Eigenschaft haben schil- 
dern konnen, empfangen, fur das Gute und Grofie sich zu entflam- 
men, fur die hehren Giiter des Wahren, Schonen und Guten Enthu- 
siasmus zu haben. Aber er hat dafiir auch das andere in Kauf nehmen 
miissen: fur die Giiter der Erde in Sympathie oder Antipathie in 
weitgehendstem Mafie sich zu entflammen. Wer den Christus- 
Impuls aufnimmt, der wird lernen, dieses was seinen physischen 
Leib in Emotion versetzt gegeniiber den Giitern der Erde, den astra- 
lischen Leib, zu sanftigen, ihn unter die Gewalt des Geistigen zu stel- 
len, und dadurch wird er gliicklich oder selig werden. Selig wird der 
werden, der seinen astralischen Leib gleichmiitig macht in bezug auf 
die Erdendinge; dadurch aber werden sie ihm gerade zuf alien. Denn 



wenn er in Emotion, in Sympathie oder Antipathie fur die Erden- 
dinge entflammt wird, dann verscherzt er sich gerade das, was sie 
ihm werden konnen. Wenn der astralische Leib aber unter die 
Gewalt des Geistigen kommt, wenn man gleichmiitig wird gegen- 
iiber den Erdendingen, dann wird einem das Erdenreich zum Lose 
gegeben! 

Steigen wir auf zu dem, was im astralischen Leib als Empfindungs- 
seele wirkt. Darinnen haben wir noch ein in dumpfer Weise walten- 
des Ich, das noch nicht so recht herausgekommen ist, und das daher 
noch in Leidenschaften den schlimmsten Egoismus entfaltet. So lan- 
ge das Ich noch so recht in der Empfindungsseele drinnensteckt, ent- 
faltet es den selbstsiichtigsten Egoismus. Es ist dann des Wunsches 
bar, den anderen Menschen dasselbe zukommen zu lassen, was ihm 
selber zukommt. Der Egoismus triibt den Sinn fur Gerechtigkeit, 
weil das Ich alles selber haben will. Wenn aber jetzt das Ich sich in 
die Nachfolge des Christus-Impulses stellt, dann wird es zu einem 
solchen, das da diirstet nach Gerechtigkeit unter alien Wesen, die um 
uns herum sind. Selig werden diejenigen sein, welche da dursten und 
hungern nach dem Gerechtigkeitsgefiihl in ihrer Empfindungsseele, 
denn sie werden gesattigt werden. Sie werden imstande sein, auf der 
Erde und auf der ganzen Welt solche Zustande herbeizufiihren, die 
in dem richtigen neuen Geist aus den Tiefen der Seele heraus solchen 
Zustanden der Gerechtigkeit entsprechen! 

Steigen wir weiter herauf zur Verstandes- oder Gemutsseele. Sie 
ist dasjenige Glied, welches das Geltenlassen von Mensch neben 
Mensch noch mehr bewirkt, und es nicht nur als ein Gerechtigkeits- 
gefiihl bewirkt wie die Empfindungsseele, sondern als ein Mitgefiihl, 
als ein wirkliches Mitfiihlen von Leid und Lust des anderen. Derjeni- 
ge, der den Christus-Impuls aufnimmt, erlangt ein Gefiihl nicht nur 
fur das, was er fiihlt, sondern auch fur das, was das andere Ich fiihlt; 
er taucht unter in das andere Ich und wird dadurch beseligt in seiner 
Verstandes- oder Gemutsseele. Beseligt ist der, der da Mitgefiihl ent- 
wickelt, denn nur dadurch, daft er sich in die Seele des anderen hin- 
einfiihlt, regt er auch die andere Seele an, sich in ihn hineinzufuhlen. 
Er wird Mitgefiihl bei der anderen Seele erlangen, wenn er auch Mit- 



gefiihl ausstrahlt. Selig sind die Mitfuhlenden, denn mit ihnen wird 
gefiihlt werden! 

Damit sehen Sie schon, wie wir jetzt, nachdem wir einige Zeit vor- 
wartsgeschritten sind in der Betrachtung dieser Zusammenhange, in 
ganz anderer Weise imstande sind, die Worte des Matthaus-Evange- 
liums, die gewohnlich in der «Bergpredigt» zusammengefafit wer- 
den, aus der Tiefe der menschlichen Natur und Wesenheit heraus zu 
verstehen. Jeder Satz der Bergpredigt bezieht sich auf eines der neun 
Glieder des Menschen. Das soil das nachste Mai noch weiter ausge- 
fuhrt werden. Die Bergpredigt soil durchsichtig vor unser geistiges 
Auge treten als diejenige Tat des Christus Jesus, durch die er das, was 
im alten Gesetz des Moses enthalten war, ganz verinnerlicht hat, 
ganz zu einem inneren Impuls gemacht hat, wodurch das Ich des 
Menschen wirksam wird, wie es wirksam werden mufi fur alle neun 
Wesensglieder des Menschen. Denn wenn das Ich den Christus-Im- 
puls aufnimmt, wirkt es auf alle neun Wesensglieder des Menschen. 
So sehen wir, wie tief wahr das ist, was hier schon einmal angedeutet 
worden ist, dafi der Christus im Kali Yuga das Ich des Menschen fa- 
hig gemacht hat, in der physischen Welt etwas zu finden, was den 
Menschen hinauffuhrt in die geistige Welt, in die Reiche der Him- 
mel. Das Ich des Menschen hat der Christus zu einem Anteilnehmer 
an der geistigen Welt gemacht. 

Auf dem alten Saturn war der physische Leib unmittelbar aus der 
geistigen Welt herausgenommen. Er war noch ganz in der geistigen 
Welt drinnen, weil damals der physische Leib geistiger noch war 
und nicht ein Bewufitsein hatte, so dafi er sich hatte trennen konnen 
von den geistigen Welten. Auf der Sonne war der Atherleib, auf dem 
Monde der astralische Leib dazugekommen, und auf der Erde erst 
war die Moglichkeit gegeben, durch die Ich-Entwickelung sich los- 
zutrennen von dem Mutterschofi des Gottlich-Geistigen in der Welt. 
Und die Folge war, dafi dieses Ich wieder zuruckgefuhrt werden 
mufite, dafi der Gott heruntersteigen mufke bis zum physischen 
Plan und auf dem physischen Plan dem Menschen zeigen mufite, 
wie er den Weg zu den Reichen der Himmel wieder zuriickfinden 
kann. 



Was durch den Christus-Impuls geschah, war somit ein wichtigstes 
Ereignis. Fragen Sie aber jetzt einmal: Haben es alle Menschen dazu- 
mal gewulk, die zu der Zeit gelebt haben, als der Christus Jesus auf 
Erden wirkte, daft da ein so wichtiges Ereignis vorgeht? Bedenken 
Sie, dafi der grofie Geschichtsschreiber Tacitus von den Christen wie 
von einer fast unbekannten Sekte spricht! Hundert Jahre spater er- 
zahlt er von den Christen nur, es kame in einer Seitenstrafie in Rom 
eine Sekte auf, die von einem gewissen Jesus angefiihrt wurde, die 
treibe da ihr Wesen. Es glaubten ja lange Zeit nach dem Christus- 
Ereignis noch viele Menschen in Rom, dafi der Jesus ihr Zeitgenosse 
sei, als wenn er jetzt eben aufgetreten ware. Kurz, es kann Wichtiges 
vorgehen in der Menschheitsentwickelung, ohne dafi die Zeitgenos- 
sen etwas davon merken. Wichtigstes konnte sogar voriibergehen, 
wenn die Menschen nicht geneigt waren, sich Verstandnis dafiir zu 
verschaffen! Dann aber wurde die Menschheit dieses Wichtigste 
nicht erleben, wurde in bezug auf dieses Wichtigste verdorren und 
veroden. - «Andert den Sinn, die Reiche der Himmel sind nahe her- 
beigekommen!» so war die Verkiindigung des Taufers Johannes und 
des Christus Jesus selber. Damit wiesen sie hin fur die, welche Oh- 
ren hatten zu horen, daft ein Wichtigstes geschahe. Daft man von 
einem Wichtigsten in der Welt nichts weifi, das ist kein Beweis da- 
fiir, daft es nicht da ist. 

Diejenigen, welche heute die Zeichen der Zeit zu deuten haben, 
die wissen, was heute geschieht, die rmissen auf ein Ereignis - wenn 
auch nicht von schlagendster Bedeutung, so aber doch auf ein wich- 
tiges Ereignis - hinweisen. Wahr ist es, es entwickelt sich etwas von 
unendlicher Bedeutung gerade in unserer Zeit! Und wahrend dazu- 
mal auf den Christus hingewiesen wurde von dem Johannes, und 
wenn von ihm selber hingewiesen wurde auf das Herankommen der 
Reiche der Himmel, auf das Ich, so mufi heute hingewiesen werden 
auf ein anderes wichtiges Ereignis. 

Der Christus ist ins Fleisch nur einmal heruntergestiegen auf die 
Erde. Im Fleische hat er die Zeit im Beginne unserer Zeitrechnung 
auf der Erde verweilt. Im Fleische werden die Menschen den Chri- 
stus als physisch verkorperten Menschen nach der weisen Fiihrung 



unserer Weltenentwickelung nicht wiederum sehen, aber audi nicht 
wieder zu sehen brauchen. Denn im Fleische wird der Christus nicht 
wiederkommen. Dennoch mussen wir sprechen von einer neuen Be- 
ziehung der Menschen zu dem Christus. Warum? Weil dasjenige 
Zeitalter, das wir das finstere nennen, das Kali Yuga, abgelaufen ist 
gerade in unserer Zeit mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, und weil 
mit dem Beginne des 20. Jahrhunderts ein neues Zeitalter beginnt, 
wo sich neue Fahigkeiten der Menschen vorbereiten, jene Fahigkei- 
ten, welche in dem finsteren Zeitalter verlorengegangen sind. Lang- 
sam und allmahlich bereiten sich neue Fahigkeiten vor. Bis zu dem 
Grade werden sich neue Fahigkeiten vorbereiten, dafi einzelne Men- 
schen da sein werden, welche dieselben als eine natiirliche Anlage ha- 
ben werden. Diese Fahigkeiten werden sich bei einer Anzahl von 
Menschen besonders zeigen zwischen den Jahren 1930 und 1940, 
und durch diese neuen Fahigkeiten werden neue Beziehungen zu 
dem Christus bei einer Anzahl von Menschen eintreten. 

Damit ist auf ein Wichtigstes in der Menschheitsentwickelung hin- 
gedeutet. Und Geisteswissenschaft ist dazu da, den Menschen das 
Verstandnis zu eroffnen fur diese neuen Fahigkeiten, die sich in der 
Menschenwelt zeigen werden. Nicht weil einzelne Menschen Lust 
und Sympathie haben, die Ergebnisse der Geistesforschung zu ver- 
breiten, gibt es eine Geisteswissenschaft in der Welt, sondern weil 
Geist-Erkenntnis notwendig ist, wenn die Menschen verstehen wol- 
len, was in der ersten Halfte unseres Jahrhunderts geschieht. Denn 
nur durch das, was eine Geisteswissenschaft dem Menschen geben 
kann, wird man fahig werden zu begreifen, was in der ersten Halfte 
unseres Jahrhunderts geschehen wird. Und wenn man fahig werden 
wird, dasjenige im Geiste zu erkennen, was dann geschehen wird, 
dann wird man auch imstande sein, die Ereignisse nicht zu verwech- 
seln mit ihren irrtumlichen Darstellungen. Denn dadurch, dafi der 
Mater ialismus sich immer mehr verbreitet, verbreitet er sich auch in 
die geistigen Weltanschauungen hinein, und da wirkt er besonders 
schlimm. Da konnte er dazu fuhren, dafi die Menschen nicht verste- 
hen werden dasjenige, was im Geiste erfafit werden soil, auch wirk- 
lich im Geiste zu erfassen, dafi sie es suchen werden in der materiel- 



len Welt. Und weil eine neue Beziehung zu dem Christus eintreten 
soil in der ersten Halfte unseres Jahrhunderts, so wird in den nach- 
sten Jahrzehnten, bis das Ereignis geschieht, immer wieder betont 
werden, dafi falsche Messiasse, falsche Christusse sich finden wer- 
den, die pochen werden auf diejenigen, welche auf den Gebieten der 
Geisteswissenschaft nur Materialisten werden konnen, und die sich 
eine neue Beziehung zu dem Christus nur so vorstellen konnen, dafi 
sie ihn im Fleische vor sich haben werden. Eine Anzahl falscher 
Messiasse wird das benutzen und sagen: Der Christus ist im Fleische 
wieder da! 

Die Beziehungen aber, welche rein durch die menschlichen Fahig- 
keiten zu gewinnen sein werden fur die erste Halfte unseres Jahrhun- 
derts, die hat die anthroposophische Weisheit vorzubereiten. Damit 
wachst die Verantwortlichkeit des anthroposophischen Strebens ins 
Ungeheure, indem die Geisteswissenschaft auf ein Ereignis vorberei- 
tet, das kommen wird, und das entweder, wenn die Geisteswissen- 
schaft sich in die Menschenseelen einlebt, verstanden werden wird 
und dann fur die weitere Menschheitsentwickelung fruchtbar wer- 
den wird, oder das ohne Verstandnis an der Menschheit vorbeigehen 
wird, wenn sich die Menschen weigern werden, das Instrument an- 
zunehmen, durch welches dieses Ereignis wird begriffen werden 
konnen: das Instrument der Geisteswissenschaft. Wenn aber die 
Menschen die Geisteswissenschaft so weit zuriickweisen wiirden, 
dafi nichts bleiben wiirde von ihr, dann wiirden sie auch nicht wis- 
sen, daft dieses Ereignis da ist, oder wiirden es falsch deuten. Die 
Frucht dieser Ereignisse wiirde fur die Menschenzukunft verlorenge- 
hen und die Menschheit wiirde dadurch in ungeheures Elend ge- 
stiirzt werden. 

Damit ist hingedeutet auf eine neue Beziehung der Menschen zu 
dem Christus als auf etwas, was dem Christus in einer verhaltnis- 
mafiig kurzen Zeit in der Menschenseele entgegenkeimt. 



VIERTER VORTRAG 



Berlin, 8. Februar 1910 

Der Gegenstand unserer heutigen Betrachtung ist ja schon das letzte 
Mai angedeutet worden. Wir haben heute noch einmal hinzuweisen 
auf jene bedeutsame Urkunde, welche in den Satzen der Bergpredigt 
enthalten ist, um dann von dieser Urkunde aus auf unsere Gegen- 
wart und auf die nachste Zukunft der Menschheit einen Blick zu 
werfen. 

Die Bergpredigt des Matthaus-Evangeliums kann nur verstanden 
werden, wenn man sie in ihrem ganzen Geiste erfafit und sie begreift 
aus dem Geiste der Entwickelung der ganzen Menschheit. Wenn wir 
noch einmal kurz iiberblicken, was schon das letzte Mai vor unsere 
Seele getreten ist, dafi das alte dammerhafte Hellsehen des Menschen 
allmahlich zuriickgegangen ist, dafi die menschlichen Fahigkeiten, 
die menschliche Erkenntnis immer mehr und mehr sich beschran- 
ken mufke auf den physischen Plan, und dafi aus diesem Grunde der 
Zusammenhang des Menschen mit den geistigen Welten aus einem 
Ereignis des physischen Planes heraus begnindet werden mufke, 
wenn wir das alles zusammenhalten, werden wir verstehen, dafi je- 
nes gottlich-geistige Wesen, das wir als das hohe Sonnenwesen, als 
den Christus charakterisiert haben, in einer Zeit, als die Menschen in 
ihrer Wahrnehmung auf den physischen Plan beschrankt waren, 
sich eben in einem physischen Leib verkorpern mufke. Das geschah 
aus dem Grunde, damit man erzahlen konnte sozusagen das Wesent- 
lichste des Lebens dieser gottlich-geistigen Wesenheit mit Ausdriik- 
ken, mit Worten, die auf den physischen Plan beziiglich sind. Denn 
nicht allein darauf kommt es an, dafi jene im Verhaltnis zur ganzen 
Menschheit Wenigen, die eine leibliche Anschauung und Beob- 
achtung von dem Christus Jesus gewinnen konnten, diese Anschau- 
ung auf dem physischen Plane hatten, sondern darauf kommt es an, 
dafi dasjenige, was man von dem Christus Jesus erzahlen kann, 
solche Darstellungen sind, die Ereignisse des physischen Planes 
wiedergeben. 



Denn von allem, was man friiher iiber andere gottlich-geistige We- 
senheiten zu erzahlen hatte, konnte man nicht sagen, daft die Erzah- 
lung, welche die Worte des physischen Planes nimmt, sich deckt mit 
den wirklichen Ereignissen. Alles, was auf die hochsten gottlichen 
Wesenheiten bezuglich erzahlt wurde, mufi so aufgefaftt werden, 
daft die Worte nur als Hindeutungen gelten konnten, daft aber das, 
was geschehen ist, nur verstanden werden kann von demjenigen, der 
die Worte anwenden kann auf die Vorgange der hoheren Plane. Das 
Leben des Christus Jesus aber, wie es sich abgespielt hat, kann jeder 
verstehen, der auch nur imstande ist, das, was erzahlt wird, anzu- 
wenden auf Vorgange des physischen Planes. Und in dieser Rich- 
tung kann man sagen: Die Christus- Wesenheit ist heruntergestiegen 
bis in eine physische Verkorpemng, vollstandig bis zum Leben in 
einem physischen Leibe. Das muftte also geschehen, weil die 
menschlichen Fahigkeiten dazumal diesen Charakter trugen, weil in 
der damaligen Zeit sich das menschliche Ich als solches seiner Wesen- 
heit bewuftt werden sollte und muftte, wenn die Entwickelung der 
Menschheit in der entsprechenden Weise vor sich gehen sollte. 

Wir haben schon gesehen, daft der bedeutendste Vermittler des Er- 
eignisses von Palastina aus der Reihe der alteren Individualitaten der 
Zarathustra oder Zoroaster war. Damit er aber das werden konnte, 
was er in jener Zeit werden muftte, dazu muftte ein Korper geschaf- 
fen werden, der wie einen Extrakt in sich selber alles enthielt, was 
einem ganzen Volke gegeben war, einem solchen Volke, das der 
Menschheit diejenigen Fahigkeiten zu geben hatte, welche durch 
physische Vererbung vermittelt werden miissen. Das haben wir als 
das Wesentliche des althebraischen Volkes von Abraham bis zu Jesus 
anzusehen, daft von Generation zu Generation sich diejenigen Fa- 
higkeiten entwickeln mufiten, die von Vater auf Sohn, von Sohn auf 
Enkel und so weiter sich immer steigernd, vererbt werden mufken, 
damit sie dann in ihrer hochsten und brauchbarsten Ausbildung er- 
schienen in jenem Leibe, der eben vererbt war von Abraham an iiber 
Salomo herunter auf den Jesus, der der Trager des Zarathustra war. 
Es wird noch viel, viel dazu gehoren, daft wir in der Lage sein wer- 
den durch unsere Betrachtungen, die hier in der Zukunft noch ge- 



pflegt werden, die ganze Mission des althebraischen Volkes in alien 
Einzelheiten zu verstehen. Denn dazu gehort, dafi wir wirklich nach 
und nach verstehen lernen werden, wie von Geschlecht zu Ge- 
schlecht immer mehr veredelt wurden jene Eigenschaften, die der 
Korper des Jesus brauchte. Es mufite dieser Korper zu seinem welt- 
historischen Beruf so fahig wie moglich gemacht werden. Das war 
nur dadurch moglich, dafi alles, was zu diesem Leibe des salomoni- 
schen Jesus gehorte, in bezug auf jene Fahigkeiten selber so vollkom- 
men war als moglich. 

Nun wissen wir, dafi an jedem menschlichen Leibe tatig waren seit 
uralten Zeiten die vier Glieder der menschlichen Natur, der physi- 
sche Leib, der Atherleib, der Astralleib und das Ich, und dafi in die 
Zukunft hinein tatig sein werden Geistselbst, Lebensgeist und Gei- 
stesmensch. Aber wir diirfen das nicht so ansehen, als ob da plotz- 
lich etwa die Tatigkeit zum Beispiel des Astralleibes aufhorte und 
gar nicht sich vorbereiten wiirde das Spatere in dem Friiheren. In ge- 
wisser Beziehung mufi sich alles Spatere im Friiheren vorbereiten. 
Der Mensch kann zwar aus eigener Kraft heute nicht so an sich ar- 
beiten, dafi zum Beispiel auch der Lebensgeist in ihm besonders zum 
Ausdruck kame; aber andere, gottlich-geistige Wesenheiten arbeiten 
mit einer solchen Tatigkeit im Menschen, die eine Tatigkeit des Le- 
bensgeistes genannt werden kann. Das gilt auch in bezug auf den 
Geistesmenschen. Es mufiten also alle sieben Glieder des Leibes des 
Jesus von Nazareth oder vielmehr der menschlichen Organisation 
des Jesus von Nazareth in bezug auf die Eigenschaften, die in Be- 
tracht kamen, veredelt werden. Dazu brauchte es einer ganz beson- 
deren Vorbereitung. Diese Vorbereitung soil uns heute zunachst 
eine Ahnung davon verschaffen, welche Geheimnisse in der Ent- 
wickelung der Menschheit und der Erde eigentlich verborgen sind. 

Es mufiten die Keime zu jener Vollkommenheit des Leibes des Je- 
sus von Nazareth von langer Hand her vorbereitet werden. Wir ha- 
ben gesehen, wie in der Zeit von Abraham bis zu Salomo oder David 
die erste Periode gerade so arbeitete an den Geschlechtern, wie sonst 
am einzelnen Menschen in dem Zeitraum von der Geburt bis zum 
Zahnwechsel gearbeitet wird am Physischen. Die Arbeit wurde nun 



so verrichtet von den hinter der Entwickelung tatigen Kraften, daft 
tatsachlich in einer gewissen Zeit ein Vorfahre des Jesus da war, der 
schon die Anlage enthielt zu den moglichst vollkommensten Fahig- 
keiten, die dann herauskamen in dem Leibe, der der Trager des Zara- 
thustra wurde. Also in einem Vorfahren des Jesus war sozusagen die 
Anlage vorhanden zu einer richtigen Ausbildung aller sieben Glie- 
der der menschlichen Natur. Mit anderen Worten: Wenn wir in der 
Vorfahrenreihe des Jesus von Nazareth heraufgehen, miissen wir 
einen solchen Vorfahren finden, der die Keime der siebengliedrigen 
Menschennatur, wenn auch nicht so vollkommen ausgebildet wie in 
dem Leibe des Jesus von Nazareth, so doch in der Anlage zu dieser 
Vollkommenheit, enthielt. Wenn das auch nicht in der aufteren 
Uberlieferung ausgedriickt ist, die althebraische Geheimlehre kann- 
te diese Tatsache. Sie wuftte, daft einmal ein Mensch gelebt hat, von 
dem man sagen muft, in ihm wirkten die sieben menschlichen Glie- 
der so, daft man sie als ganz besonders bemerkenswerte zu bezeich- 
nen hat. So deuten tatsachlich die Eingeweihten auch der althebra- 
ischen Geheimlehre auf einen Vorfahren des Jesus von Nazareth hin, 
bei dem sie sich bewuftt waren: Wir miissen in diesem Vorfahren die 
sieben menschlichen Glieder in einer ganz besonderen Weise ansehen. 

Und so nannten sie denn bei diesem Vorfahren das Ich «Itiel», um 
damit anzudeuten, daft in diesem Vorfahren das Ich jene Kraft haben 
muftte - denn das Wort «Itiel» wurde ungefahr heifien «Kraftbesit- 
zer» -, jene Kraft, jene Kuhnheit haben muftte, die, wenn sie sich 
durch die Geschlechter vererbte, der richtige Ich-Trager werden 
konnte fur jene hohe Wesenheit, die dann wiedererscheinen sollte in 
dem Jesus von Nazareth. So nannten sie den Astralleib jenes Vorfah- 
ren «Lamuel»; das wiirde ungefahr bezeichnen einen astralischen 
Leib, der so entwickelt ist, daft er das Gesetz, die Gesetzmaftigkeit 
nicht allein aufterhalb seiner, sondern als in sich tragend fiihlt. So 
nannten sie den Atherleib dieses Vorfahren «Ben Jake»; das wiirde 
heiften: ein solcher Atherleib, der moglichst in sich durchgearbeitet 
worden ist und in gewisser Vollkommenheit Gewohnheiten in sich 
aufnehmen kann. Und den physischen Leib dieses Vorfahren nann- 
ten sie «Agur», aus dem Grunde, weil die physische Tatigkeit, die Fa- 



higkeit dieses Vorfahren auf dem physischen Plan darinnen bestan- 
den hat, dafi er das, was an alten Uberlieferungen vorhanden war, 
sammelte; denn «Agur» wiirde heiften «der Sammler». Wie dann 
durch das, was im Leibe des Jesus vorgegangen ist, gesammelt wur- 
den alle alten Lehren der Welt, so hat sich das schon als Anlage bei 
diesem Vorfahren durch das Sammeln der alten Urkunden entwik- 
kelt. Und was wie Atma oder Geistesmensch in diesem Vorfahren 
arbeitete, das nannten sie, weil mit einer besonderen Sorgfalt sozusa- 
gen die Liebe der gottlich-geistigen Wesenheiten an dieser Anlage 
zum Geistesmenschen arbeitete, mit einem Wort, das ungefahr «der 
Liebling Gottes» bedeuten wiirde, «Jedidjah». Und was als Buddhi 
oder Lebensgeist hineinwirkte in diesen Vorfahren, wovon sie sag- 
ten: In diesem Vorfahren mull ein solcher Lebensgeist wirken, dafi 
er wie ein Lehrer des ganzen Volkes wirken kann, damit sich ausgie- 
fien kann, was dieser Lebensgeist enthalt, auf das ganze Volk - , das 
bezeichneten sie als «Kohelet». Und endlich nannten sie Manas oder 
Geistselbst dieses Vorfahren - weil sie sagten, ein solches Geist- 
selbst muft die Anlage in sich enthalten innerlich abgeschlossen zu 
sein, in sich im Gleichgewicht zu sein - , mit einem Wort, das da be- 
deutet «inneres Gleichgewicht», «Salomo». 

So hat denn dieser Vorfahre, den man gewohnlich nur kennt unter 
dem Namen «Schelomo», «Schlomo» oder «Salomo», die drei 
Hauptnamen: Jedidjah, Kohelet, Salomo; und er hat die vier Neben- 
namen Agur, Ben Jake, Lamuel, Itiel, weil diese Namen die vier 
Hiillen bedeuten, wahrend die drei ersten Namen das gottliche 
Innerliche bezeichnen. Sieben Namen hat fur die althebraische Ge- 
heimlehre diese Personlichkeit. 

Und wenn spater sozusagen die Menschen, auch gewisse Sekten 
unter den Juden selber, nicht zufrieden waren mit Salomo - ob mit 
Recht oder Unrecht, soil hier nicht untersucht werden - , so kann 
das dadurch erklart werden, da£ in diesem Salomo hohe, ganz grofie, 
bedeutsame Anlagen waren, die sich zu dem angegebenen Ziel dann 
weiter verpflanzen sollten, und dafi der einzelne Mensch auf einer 
bestimmten Stufe der Entwickelung in seinem aufteren Leben durch- 
aus nicht immer das darzustellen braucht, was er als Anlage vererben 



soil auf seine Nachkommen, dafi er vielleicht gerade deshalb, weil 
hohe Krafte in ihm sind, mehr der Moglichkeit ausgesetzt ist, gegen 
die Richtung solcher Krafte zu fehlen, als ein anderer, der solche 
Krafte nicht in sich hat. Was man als moralische Fehler bei Salomo 
bemerken wurde, das wurde nicht in Widerspruch stehen mit dem, 
was die althebraische Geheimlehre in Salomo sieht, sondern es 
wiirde sich sogar im Gegenteil gerade aus dieser Tats ache heraus 
das Fehlerhafte an Salomo erklaren. 

So blickte die althebraische Geheimlehre auf einen Vorfahren des 
Jesus hin, von dessen Bedeutung sie in bezug auf die ganze Mission 
des althebraischen Volkes sich vollstandig bewufit war. Alles, was in 
dieser Personlichkeit veranlagt war, verpflanzte sich dann weiter 
herunter und erschien in der Essenz dann, als es im weltgeschicht- 
lichen Verlauf gebraucht worden ist. Das ist etwas, was uns eine 
Ahnung verschaffen soli, welche gesetzmafiigen Geheimnisse sich 
hinter der Entwickelung der Menschheit verbergen. 

Wenn nun so die Mission des althebraischen Volkes vornehmlich 
darinnen bestand, dafi gleichsam hineingeimpft wurde in das Blut, in 
die physische Vererbung, was durch dieses Volk an Fahigkeiten der 
Menschheit aus den geistigen Welten gegeben werden sollte, so war 
eben zur Zeit des Auftretens des Taufers Johannes und des Jesus von 
Nazareth die Menschheit so weit, daft sie durch diese veredelten Ei- 
genschaften aufnehmen sollte den Impuls, wiederum hinaufzustei- 
gen in die geistige Welt, mit anderen Worten, aufnehmen sollte den 
Christus-Impuls. Deshalb wurde das gesagt, um anzudeuten, was al- 
les fur Veranstaltungen notwendig waren, um innerhalb der physi- 
schen Menschheitsentwickelung eine solche Hiille zu schaffen, die 
umschliefien durfte das Christus-Wesen. 

Nun fiihlen und empfinden wir vielleicht auch das Radikale des 
Fortschrittes fur die Menschheitsmission durch diese bis ins Physi- 
sche herabgetragene gottliche Mission des jiidischen Volkes, fiihlen, 
wie bis in die physische Materie das Gottliche am tiefsten herabge- 
tragen worden ist, damit von diesem Wendepunkt aus die Mensch- 
heit um so mehr wieder hinaufsteigen kann von dem verfeinerten 
Physischen ins Geistige. Der Aufstieg ins Geistige mulke eben von 



jener Zeit an beginnen. Dazu aber mulke nunmehr ein solcher Im- 
puls der Menschheit gegeben werden, der gewissermafien alles, was 
die Menschheit wollen soli und erwarten soli von der Weltentwicke- 
lung, wirklich in jenes tiefste Zentrum des Menschen legte, das mit 
dem Ich zu bezeichnen ist. In das tiefste Innere des Menschen sollte 
der Impuls durch Christus hineingehen. Aus dem Leibe des Christus 
heraus sprach ein solcher Impuls, der an das tiefste Wesen der 
menschlichen Natur appellierte. Was also sollte unter diesem Impuls 
anders werden? 

Bevor dieser Impuls gekommen war, war es so, dafi die Menschen 
das, was sie am meisten begliickte, am meisten selig oder gotterfullt 
machte, in gewisser Weise von aufien empfingen oder erwarteten. 
Wenn man nioht die Weltgeschichte blofi nach den aufieren Urkun- 
den betrachtet, sondern nach dem, was die geistigen Urkunden ge- 
ben konnen, so muli man sich sagen: Wir blicken zuriick in alte Zei- 
ten, wo der Mensch dadurch in das Reich der geistigen Wesenheiten 
aufstieg, dafi in ihm, sei es mehr oder weniger normal, die Hellseher- 
gabe erwachte. Aber diese Hellsehergabe erwachte traumhaft, wah- 
rend gottlich-geistige Krafte in ihm wirkten und das Ich herunterge- 
driickt war. Der Mensch war mehr oder weniger aufierhalb des Ich. 
War er schon im normalen Zustand sich dieses Ich nicht so sehr be- 
wufit als in spateren Zeiten, so war er in den Zeiten, wo der Geist in 
ihm wirkte und ihn hinauftrug in die geistige Welt, ganz aufier sich, 
ganz aufier seinem Ich. Er war vollig hingegeben entweder an das au- 
fiere Gottlich-Geistige oder an das Gottlich-Geistige in seiner Seele. 
Aber in diesen Augenblicken der Ekstase, der Begeisterung war er 
sich seines Zustandes gar nicht bewufit. Das sollte ja eben kommen, 
dafi der Mensch eine Verbindung finden sollte zum Geistigen aus sei- 
nem Ich heraus und yon da aus den tiefsten Kern seines Wesens 
durchdringen konnte mit dem Bewufitsein: Ich gehore einem gott- 
lich-geistigen Reiche an. - Das konnte nur dadurch geschehen, dafi 
der Christus auf der Erde lebte, sein Wesen den Erdenwesen einflofi- 
te, und dafi das Ich sich mit dem durchdringen konnte, was sich als 
das Vorbild des Christus ergab. Dadurch konnte sich der Mensch sa- 
gen: Ich bin jetzt mit meinem Ich im geistigen Reiche, in den Rei- 



chen der Himmel, so wie friiher die Menschen aufier dem Ich in den 
Reichen der Himmel waren. «Die Reiche der Himmel sind nahe her- 
beigekommen!», das war die neue Lehre. Dazu sollte die Seelenver- 
fassung, der Sinn der Menschen geandert werden, um nicht mehr zu 
glauben, dafi man aufierhalb des Ich, nur im Zustande der Ekstase, 
hinaufgetragen werden konnte in die geistige Welt, sondern im Zu- 
stande des vollen Ich-Bewufitseins seine Verbindung finden kann 
mit den Reichen der Himmel. 

Daft das geschehen mufite, das kann man noch dadurch einsehen, 
dafi sich der Zustand des alten Hellsehens im Laufe der Jahrtausende 
immer mehr verschlechtert hat. Wahrend in alten Zeiten der 
Mensch in seinen ekstatischen Zustanden zu den guten gottlich- 
geistigen Machten hinaufstieg, in seine gottlich-geistige Heimat hin- 
einstieg, war das, was dem Menschen in der Zeit der Begriindung des 
Christentums noch geblieben war von ekstatischen Zustanden, so, 
dafi er jetzt, wenn er aufterhalb seiner war, nicht mehr zu den guten 
geistigen Machten, sondern zu den schlimmen, bosen geistigen 
Machten gefiihrt wurde. Das ist uberhaupt der grofte Unterschied 
zwischen diesen zwei Entwickelungszustanden: Wenn in uralten 
Zeiten der Mensch mit Unterdriickung des Ich, was wir heute me- 
dial nennen wiirden, sich traumhaft erhob zu den geistigen Welten, 
dann war er mit guten geistigen Wesenheiten in Gemeinschaft. Das 
hatte sich aber geandert in jener Zeit, als der Mensch durch das Ich 
das Band zu den Reichen der Himmel finden sollte; und wenn er 
jetzt die ekstatischen Zustande suchte oder entwickelte, dann wur- 
den sie bezeichnet als Zustande der «Besessenheit», welche den Men- 
schen mit bosen, ihm feindlichen geistigen Machten in Verbindung 
brachten. So mufke in der Zeit, als der Christus Jesus auftrat, gerade- 
zu als heilsame Lehre verkiindet werden: Es ist nicht richtig, daft ihr 
versucht, unter Ausschlufi eures Ich in Zustande zu kommen, wo 
ihr die geistigen Welten wahrnehmt, sondern jetzt ist es richtig, daft 
ihr in eurem tiefsten Wesenskern das Band sucht zu den gottlich- 
geistigen Reichen! 

Diese Lehre liegt im wesentlichen beschlossen in der Bergpredigt 
des Matthaus-Evangeliums. In alten Zeiten, so konnte man um- 



schreiben, gab es ein traumhaftes Hellsehen. Da wurde der Mensch 
hinaufversetzt durch Ekstase in geistige Welten. Damals war er reich 
an geistigem Leben, er war kein Bettler urn Geist, wie er es gewor- 
den ist in der Zeit, als das Christentum begriindet wurde. Wenn er in 
alten Zeiten durchdrungen war von Geist, von dem, was man im 
Griechischen «Pneuma» nennt, dann wurde er hinaufentriickt in 
gottlich-geistige Welten. Jetzt konnte der Christus nicht sagen: Gott- 
erfullt sind die, welche durch ekstatische Zustande reich werden an 
Geist! - denn die muftten gerade geheilt werden als die Besessenen. 
Daher wird vorher von der Heilung der Besessenen gesprochen. 
Jetzt mufite er verkiinden: Die Zeit ist gekommen, wo gotterfullt 
sind diejenigen, welche geworden sind Bettler um Geist! - das heifit 
solche, die sich nicht mehr erheben konnen zu ekstatischen, zu 
traumhaft hellseherischen Zustanden, sondern die angewiesen sind, 
in sich selber das Reich der Himmel zu suchen, von ihrem Ich aus. 

Wenn der Mensch friiher hineinversetzt war in das Erdenleid und 
in den Erdenschmerz, dann brauchte er, weil es fur ihn ja in seiner 
Wesenheit einen Zustand gab, durch den er entnickt werden konnte 
zu den gottlich-geistigen Welten, diesen Zustand nur in sich hervor- 
zurufen. Er brauchte das Leid nicht zu ertragen, sondern wenn Leid 
ihn befiel, konnte er jenen Zustand aufsuchen, wo er geist- oder gott- 
erfullt war, und konnte in diesem Zustand, in einem Entriicktsein 
von seinem Ich, Heilung finden von den Leiden und Schmerzen der 
Erde. Aber auch diese Zeit mufite von dem Christus Jesus als eine 
solche bezeichnet werden, die voriiber ist. Jetzt sollen gotterfullt 
werden diejenigen, die nicht mehr imstande sind, den Beistand im 
Leid von aufien zu erfahren, sondern die durch Starkung ihres eige- 
nen Ich die Kraft im Innern suchen; die den Paraklet im Innern fin- 
den. Gotterfullt sind die, die das Leid nicht verscheuchen durch ek- 
statische Erhebung zum Gott, sondern die es tragen und die Kraft 
des Ich entwickeln, wodurch sie in sich finden den Paraklet, den 
man spater den «Heiligen Geist» nannte, der sich durch das Ich 
offenbart. 

Noch der Buddha hatte nicht empfohlen, das Leid zu tragen, son- 
dern das Leid abzustreifen, mit allem Erdendurst abzustreifen. Noch 



sechshundert Jahre vor dem Christus Jesus hat Buddha gerade das als 
schlimme Folge des Durstes nach Dasein bezeichnet, was als Leid auf 
der Erde ist. Sechshundert Jahre spater sprach es der Christus im 
zweiten Satz der Bergpredigt aus, dafi das Leid nicht in dieser Weise 
abgestreift werden sollte, sondern getragen werden soli, auf dafi es 
eine Priifung sei, damit das Ich jene Kraft entwickelt, die es in sich 
selber finden kann: den inneren Beistand, den «Paraklet». Das ist 
wortlich im zweiten Satz der Bergpredigt enthalten bis auf den Aus- 
druck «Paraklet». Man raufi nur die Dinge in der richtigen Weise le- 
sen. Das ist ja gerade die Aufgabe in unserer Zeit, aus dem, was uns 
die Geisteswissenschaft gibt, die grofien, ebenfalls geisteswissen- 
schaftlichen Urkunden lesen zu lernen. 

Ein drittes ist dies: Wenn in alten Zeiten die Menschen sich durch- 
dringen konnten mit dem, was aus der Ekstase kommt, was man im 
Griechischen als «Pneuma», Geist, bezeichnet, dann wurden sie in- 
stinktiv ihre Bahn geleitet. Alle Impulse, Handlungen, Leidenschaf- 
ten, Triebe und Begierden, kurz alles, was im astralischen Leib des 
Menschen ist, das wurde instinktiv geleitet; es wurde zum Guten ge- 
leitet, wenn der Mensch imstande war, sich zu guten geistigen We- 
senheiten zu erheben. Aber es war noch nicht von dem Ich ausgegan- 
gen die innere Kraft, Leidenschaften, Triebe und so weiter zu zah- 
men, zu lautern und ins Gleichgewicht zu bringen. Jetzt aber war 
die Zeit gekommen - das mufite wiederum der Christus verkiin- 
den - , wo die Menschen, wenn sie zahmen und lautern, gleichmiitig 
machen die Leidenschaften, Triebe, Begierden ihres Astralleibes, 
durch sich selber erreichen, was das Ziel der gegenwartigen Mensch- 
heit ist und was man dadurch ausdriickt, dafi man hinweist auf den 
grofien Fortgang der Entwickelung. Dieser Fortgang der Entwicke- 
lung hat sich uns oft in folgender Weise dargestellt. Der Mensch be- 
gann sein Dasein auf dem alten Saturn, setzte es fort durch Sonnen- 
und Mondendasein und bekam auf der Erde sein Ich zuerteilt. Aber 
nur wenn er sich seines Ich bewufit wird, wenn er das, was ihm in 
seinem astralischen Leib noch auf dem Monde gegeben ward, zahmt, 
gleichmiitig macht, kann er das Ziel der Erdenmission wirklich er- 
reichen. Diejenigen konnen durch den Christus-Impuls gotterfullt 



werden, die ihre Triebe und Begierden im astralischen Leib zahmen, 
gleichmiitig machen. Dadurch werden sie durch sich selber finden 
die Erde. - So ist im dritten Satz der Bergpredigt dieses, was eigent- 
lich immer mit einem unsinnigen Wort iibersetzt wird, gesagt: Die- 
jenigen, welche gleichmiitig machen - nicht: sanftmiitig — ihre 
Triebe, Begierden und Leidenschaften, werden als ein Los zugeteilt 
erhalten, oder man kann auch sagen, erben die Erde. 

Da haben wir die drei ersten Satze der Bergpredigt in ihrer ganzen 
weltgeschichtlichen Bedeutung vor uns stehen: Was im Physischen 
durch eine besondere Ausbildung des physischen Leibes in alten 
Menschheitszeiten moglich war, dafi die Menschen in hellseherisch- 
traumhaften Zustanden das Geistige sahen, das ist im ersten Satz der 
Bergpredigt fur den physischen Leib ausgesprochen, der jetzt ver- 
armt ist an inner er Geisterfiilltheit. Fur den Atherleib, durch den 
das Leid bewufit wird, wenn es auch zunachst im astralischen Leib 
bewufit wird, ist angedeutet, daft die Menschen in sich selber eine 
Kraft entwickeln miissen, um einen Beistand zu finden gegen das 
Leid, das sie als Priifung tragen. Dann haben wir fur den astralischen 
Leib angefuhrt, dafi der Mensch durch Zahmung und Lauterung sei- 
ner Triebe, Leidenschaften und so weiter jene starke Kraft in seinem 
Innern findet, wodurch er ein eigentliches Ich wird und die Mission 
der Erde als sein Los zugeteilt erhalt. 

Wenn wir jetzt zu dem Ich hinauf kommen, so wissen wir, dafi 
dieses Ich arbeitet in der Empfindungsseele, in der Verstandesseele 
und in der Bewufitseinsseele. Das Ich arbeitet in der Empfindungs- 
seele, das heifk, es vergeistigt die Empfindungsseele. Dadurch wird 
fur den Menschen in der aufieren Welt dasjenige zu einer wichtigen 
Angelegenheit, was gerade durch das Christentum verbreitet werden 
soli: die Allgerechtigkeit ausgiefiende menschliche Bruderliebe. Was 
sonst die Empfindungsseele nur im Physischen empfindet, Durst 
und Hunger, das mu6 sie durch das Christentum in bezug auf das 
Geistige zu empfinden lernen: Durst und Hunger nach der allwal- 
tenden Gerechtigkeit. Diejenigen, welche so das Zentrum des Men- 
schen im Ich finden, werden dadurch, dafi sie an sich selber arbeiten, 
befriedigt werden fur ihr Verlangen in der Empfindungsseele nach 



allwaltender irdischer Gerechtigkeit. Gotterfiillt werden sie sein, die 
durch den Christus-Impuls lernen nach Gerechtigkeit zu diirsten 
und zu hungern, wie man nach physischer Nahrung hungert und 
diirstet, denn durch die starke Kraft in ihrem Innern werden sie da- 
durch, daft sie arbeiten an der Gerechtigkeit in der Welt, in sich sel- 
ber finden die Sattheit fur diese Eigenschaft! 

Nun kommen wir zur Verstandesseele. Wir haben ofter betont: 
Wahrend in der Empfindungsseele das Ich noch dumpf briitet, 
glanzt es zuerst auf als eigentliches menschliches Ich in der Verstan- 
desseele, um sich dann voll bewuftt zu werden in der Bewufttseins- 
seele und da erst ein reines Ich zu werden. Da ist also etwas ganz Ei- 
gentiimliches vorhanden: Das menschliche Ich, dasjenige, wodurch 
wir alien Menschen gleich sind, was ein jeder in sich tragt, glanzt auf 
in der Verstandesseele. Wo wir auch einen Menschen finden in der 
Welt, er ist dadurch ein Mensch und unseresgleichen, daft in seiner 
Verstandesseele ein Ich aufglanzt. Dadurch werden wir zu unseren 
Mitmenschen in ein richtiges Verhaltnis kommen, daft uns gerade in 
der Verstandesseele etwas aufgeht, das wir so, wie wir es empfangen 
konnen, in die Aufienwelt hinaustragen sollen. In der Verstandes- 
seele sollen wir etwas entwickeln, was wir so in die Umgebung hin- 
ausflieften lassen, wie es wieder zu uns zuriickflieften soil. Daher ist 
es in der Bergpredigt das einzige Mai, daft das Subjekt des Satzes dem 
Pradikat gleich ist: Gotterfiillt, oder selig, sind die, die da Liebe ent- 
falten; denn durch das Ausstrahlen der Liebe wird ihnen wieder Lie- 
be. - Darinnen sehen Sie die unendliche Tiefe einer solchen geisti- 
gen Urkunde, daft sie selbst in ihrer Satzfiigung bis in solche Einzel- 
heiten hinein verstanden werden kann, wenn man nach und nach 
durch Jahre hindurch zusammengetragen hat, was Geisteswissen- 
schaft geben kann, um den Menschen und die Welt zu begreifen. 
Den funften Satz der Bergpredigt kann man gar nicht verstehen in 
seinem Unterschiede zu den anderen Satzen, die alle ein anderes Pra- 
dikat als Subjekt haben, wenn man nicht den Hinweis dieses Satzes 
kennt gerade auf die Verstandes- oder Gemiitsseele. 

Jetzt gehen wir hinauf zur Arbeit des Ich an der Bewufttseinsseele. 
Da wird das Ich sozusagen erst rein, kann sich seiner selbst erst voll- 



standig bewufit werden. Das wird in der Bergpredigt sehr schon da- 
durch ausgedriickt, dafi gesagt wird: Nur im Ich kann es sein, wo die 
gottliche Substanz dem Menschen aufgeht. Gotterfiillt sind die, die 
in ihrem Blute oder Herzen - was der Ausdruck des Ich ist - rein 
sind, die nichts hineinkommen lassen als das, was die reine Ichheit 
ist, denn sie werden darinnen den Gott erkennen, den Gott schauen! 

Jetzt kommen wir hinauf zu demjenigen in der Bergpredigt, was 
schon nach dem Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmenschen hin 
gerichtet ist. Da kann der Mensch nicht mehr blofi durch sich selber 
arbeiten, da mufi er auf der jetzigen Entwickelungsstufe appellieren 
an die gottlich-geistigen Welten, die gerade durch den Christus in 
Verbindung mit der Erde gebracht worden sind, da mufi er mit sei- 
nem Ich aufschauen zu den erneuerten gottlich-geistigen Welten. 
Wahrend friiher in die Menschheit hineingekommen ist, und auch 
heute noch hineinkommt Streit und Disharmonie durch die Ichheit, 
soli sich durch den Christus-Impuls iiber die Erde ausgiefien Friede. 
Und diejenigen, welche den Christus-Impuls aufnehmen, werden in 
jenem Teil der Menschennatur, der sich erst nach und nach in der 
Zukunft als Geistselbst entwickelt, Friedenstifter werden; und sie 
werden dadurch in einem neuen Sinne «S6hne Gottes» werden, in- 
dem sie den Geist aus den geistigen Reichen heruntertragen. Gotter- 
fiillt sind die, die da Frieden oder Harmonie bringen in die Welt; da- 
durch sind sie Sonne Gottes! - Denn so miissen die genannt werden, 
die wirklich innerlich erfullt sind von einem Geistselbst, das Frieden 
und Harmonie bringen soil iiber die Erde. 

Nun miissen wir uns klar sein, dafi von allem, was sich auf der 
Erde entwickelt, Restliches aus friiheren Zeiten zunickbleibt in spa- 
tere Zeiten hinein. Dieses Restliche ist in gewisser Weise demjenigen 
feindlich, was sich als Keim immer hineinstellt in die spateren Zei- 
ten. So wird dasjenige, was der Christus-Impuls bringt, hineingestellt 
in die ganze Menschheitsentwickelung, aber nicht auf einmal, son- 
dern so, dafi Reste vorhanden bleiben von dem, was die friihere 
Menschheitsentwickelung gebracht hat. Da ist es notwendig, dafi 
die, welche diesen Christus-Impuls zuerst verstehen, feststehen auf 
dem Boden desselben, ganz innerlich durchdrungen sind von seiner 



Kraft. Und wenn sie innerlich durchdrungen sind von der Kraft, die 
von dem Samen ausgeht, der durch den Christus gekommen ist, und 
wenn sie feststehen auf diesem Boden, dann werden sie gerade da- 
durch, daft sie die Kraft der Festigkeit entwickeln, im neuen Sinne 
gotterfullt sein. Gotterfullt sind die, die unter der neuen Ordnung, 
die unter dem Christus steht, Verfolgung erleiden von dem, was 
noch aus der alten Ordnung hereinragt! - Und der letzte Satz der 
Bergpredigt weist direkt auf den Christus-Impuls selber hin, indem 
er zu den Aposteln sagt: Und gotterfullt sollt ihr sein, die ihr beson- 
ders berufen seid, den Namen des Christus in die Welt zu tragen! 

So sehen wir, wie aus den grofien kosmologischen und Mensch- 
heitslehren heraus in der Bergpredigt direkt das Christentum abge- 
leitet wird, und daft uberall hinge wiesen wird auf jene Kraft des In- 
nern, die im Ich selber ihren Mittelpunkt finden muft. Das muft 
durchaus verstanden werden. Das muft bis heute verstanden werden, 
und es muft bis heute so verstanden werden, daft nicht diejenigen 
glauben, im echten Sinne christlich zu sein, welche etwa in irgend- 
welchen dogmatischen Nebenbedeutungen das Christentum suchen, 
sondern gerade diejenigen sind im echten Sinne christlich, welche die 
Bedeutung des Satzes verstehen: Andert die Seelenverfassung oder 
den Sinn, denn die Reiche der Himmel sind bis ins Ich hineingestie- 
gen! - Die sind im echten Sinne christlich zu nennen, die darinnen 
das Wesentliche sehen, und die auch weiter verstehen, daft dasjenige, 
was im wahren Sinne christlich ist, anders ausgesprochen werden 
muftte im Beginne unserer Zeitrechnung und anders ausgesprochen 
werden muft heute! 

Es ist ein schlimmes Miftverstandnis des Christentums, wenn man 
glauben wollte, daft das, was als christlich mit den Worten der Zeit 
von vor zwei Jahrtausenden bezeichnet wurde, sich bis heute nicht 
weiter entwickelt hatte. Man muftte das Christentum als eine tote 
Kulturstromung bezeichnen, wenn man heute ebenso reden muftte 
wie vor zweitausend Jahren. Das Christentum ist ein lebendiges! Es 
entwickelt sich und wird sich immer weiter entwickeln. Und so 
wahr es ist, daft das Christentum seinen Ausgangspunkt nehmen 
muftte von der Zeit, in der die Menschen heruntergestiegen sind bis 



auf den physischen Plan, seinen Ausgangspunkt nehmen muftte von 
einer Vermenschlichung eines Gotteswesens in einem physischen 
Menschenleib, ebenso wahr ist es, dafi die Menschen gerade in unse- 
rer Zeit lernen miissen, sich hinauf zu erheben, um das Christentum 
und die Christus- Wesenheit selber wieder zu verstehen von einem 
hoheren geistigen Standpunkt aus. Was heifit das? 

So wahr die alten traumhaft hellseherischen Krafte sich verloren 
haben, so daft zur Zeit des Christus nicht mehr die als gotterfiillt be- 
zeichnet werden konnten, die im alten Sinne geisterfiillt waren, son- 
dern die, die in sich selber fanden die Reiche der Himmel, so wahr 
ist es, dafi mit diesem vollen Bewufitsein des Ich die Menschen wie- 
der hinaufsteigen in die geistige Welt und sich wieder neue Krafte 
und Fahigkeiten entwickeln werden. Und so wahr zur Zeit des Tau- 
fers die Zeit gekommen war, wo die Menschen jene Fahigkeiten ge- 
rade zu einer Krisis gebracht hatten, die auf den physischen Plan her- 
unterfuhren, so wahr ist es, dafi wir gegenwartig in einer wichtigsten 
Zeit stehen. Was man das finstere Zeitalter nennt, das begonnen hat 
mit dem Jahre 3101 vor Christus, und das seinen Hohepunkt er- 
reicht hatte, als sich der Christus verkorperte, das hat sein Ende 
erreicht am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Das Kali Yuga hat sein 
Ende erreicht im Jahre 1899, und wir gehen einer Zeit entgegen, in 
welcher sich auf natiirliche Weise unter den Menschen neue Krafte 
und Fahigkeiten entwickeln, die sich noch in der ersten Halfte unse- 
res jetzigen Jahrhunderts klar und deutlich zeigen werden. Diese 
neuen Krafte und Fahigkeiten wird man verstehen miissen. Insbe- 
sondere diejenige Menschheit, welche die Aufgabe der Geisteswis- 
senschaft begriffen hat, wird verstehen miissen, dafi ein solches Erhe- 
ben zum Geistigen wieder moglich ist. Denn in den wichtigen Zei- 
ten, die auf das Jahr 1930 folgen werden, werden einzelne Menschen 
wie aus ihrer Natur heraus fahig werden, hohere Krafte zu entwik- 
keln, wodurch sichtbar werden wird, was wir den Atherleib nennen. 
Atherisch hellseherische Krafte werden sich entwickeln bei einer 
Anzahl von Menschen. 

Zweierlei wird dann moglich sein. Entweder der Materialismus 
unseres Zeitalters geht welter: Dann wird man, wenn solche Krafte 



sich zeigen, nicht verstehen, daft sie hinauffiihren in die geistigen 
Welten; man wird sie miftverstehen, und dadurch werden sie unter- 
driickt werden. Wenn das geschahe, wiirde das nicht dazu berech- 
tigen, daft die Menschen aus dem materialistischen Sinne heraus am 
Ende des Jahres 1940 etwa sagten: Nun seht, was das fiir phantasti- 
sche Propheten waren am Anfange des 20. Jahrhunderts! Nichts hat 
sich erfullt! - Denn wenn die neuen Fahigkeiten nicht da sein wer- 
den, wird das keine Widerlegung dessen sein, was jetzt gesagt werden 
kann und muft, sondern es wird nur ein Beweis dafiir sein, daft die 
unverstandige Menschheit diese Fahigkeiten im Keime erstickt und 
sich dadurch etwas genommen haben wird, was die Menschheit wird 
haben miissen, wenn sie in ihrer Entwickelung nicht verdorren und 
veroden will. Das ist die grofte Verantwortung der Anthroposophie. 
Die Anthroposophie ist entsprungen aus der Erkenntnis der Not- 
wendigkeit, daft vorgearbeitet werden muft fiir etwas, was kommen 
wird, und das auch iibersehen und unterdriickt werden konnte. Vor- 
zuarbeiten hat die Anthroposophie fiir das Verstandnis geistig sich 
entwickelnder Krafte der Menschheit. Werden diese Krafte unter- 
driickt werden, dann wird die Menschheit weiter in den Sumpf des 
Materialismus hineingehen. 

Das andere ist, daft die Anthroposophie Gliick hat mit ihren Leh- 
ren zur Verbreitung eines Verstandnisses fiir die Erhebung der Men- 
schen in die geistige Welt, daft sie Gliick hat mit dem Herausheben 
der Menschen aus materialistischer Gesinnung. Dann aber wird jetzt 
etwas eintreten miissen aus der anthroposophischen Geistesbewe- 
gung heraus, was in friiheren Jahrhunderten sich vorbereitet hat, 
was aber jetzt in unserer Zeit an einem besonders wichtigen Wende- 
punkt sich voll entwickeln muft. 

Die friiheren Jahrhunderte waren dazu geeignet, den materialisti- 
schen Sinn der Menschheit immer mehr zu pflegen. Daher konnte 
man friiher unter dem materialistischen Einfluft glauben, daft der 
Christus-Impuls und die Christus-Wesenheit mit der Erde dadurch 
in eine Beziehung treten werde, daft sie sich noch einmal oder viel- 
leicht noch ofter in einen physischen Leib, in einen materiellen Leib 
hinein verkorpern werde. Statt sich Klarheit dariiber zu verschaffen, 



dafi die Menschen hinaufwachsen werden mit ihren Fahigkeiten, um 
in grofierer Anzahl, und zuletzt alle, das Ereignis von Damaskus zu 
erleben, das heifit, den Christus in der Erdenatmosphare zu erleben, 
ihn im Atherleibe zu schauen, statt dessen hat man immer geglaubt, 
der Christus werde wieder heruntersteigen in einen physischen Leib, 
damit er befriedigen konne den materialistischen Sinn der Men- 
schen, die nicht glauben wollen an den Geist, an das, was Paulus ge- 
sehen hat in dem Ereignis von Damaskus: Der Christus ist in der Er- 
denatmosphare, er ist immer da! «Ich bin bei euch alle Tage bis an 
der Welt Ende!» - Wer sich durch die Methoden des Hellsehens hin- 
aufentwickelt zum Schauen in der geistigen Welt, der findet das, was 
in der vorchristlichen Zeit nicht zu finden war in den geistigen Wel- 
ten: den Christus in seinem Atherleibe. Das ist der wichtige Fort- 
schritt in der Menschheitsentwickelung, dafi noch bevor die erste 
Halfte unseres Jahrhunderts abgelaufen sein wird, bei vielen Men- 
schen sich wie auf naturliche Art jene Fahigkeit entwickeln wird, 
durch die sie das Ereignis von Damaskus zu einer personlichen Er- 
fahrung machen und den Christus in seinem Atherleib schauen wer- 
den. Nicht heruntersteigen ins Fleisch wird der Christus, sondern 
hinaufsteigen werden die Menschen, wenn sie sich Verstandnis fur 
den Geist erworben haben. 

Das bedeutet das Wiederkommen des Christus in unserem Zeital- 
ter, weil in diesem 20. Jahrhundert die Menschen sich herausarbeiten 
miissen aus dem Kali Yuga zu einem hellseherischen Zeitalter, zu 
dem die ersten Keime gelegt werden miissen in diesem Jahrhundert. 
Hinaufsteigen werden die Menschen durch die Fahigkeiten, die da 
kommen werden, zu dem Christus, der da ist, und der gesehen wer- 
den kann von der Vorhut derjenigen Menschen, die durch die an- 
throposophische Verkiindigung zu dem gefuhrt werden, was im 
Laufe der nachsten 2500 Jahre mehr oder weniger alle Menschen- 
seelen erleben werden. 

Das ist das grofie Ereignis, was der Menschheit fur die nachste Zu- 
kunft bevorsteht, dafi wiederum gotterfiillt sein werden diejenigen, 
die sich jetzt mit vollem Ich-Bewufksein hinauferheben zum atheri- 
schen Sehen des Christus in seinem Atherleib. Dazu mufi aber der 



materialistische Sinn griindlich iiberwunden werden und die 
Menschheit Verstandnis gewinnen fur spirituelle Lehren, fiir spiritu- 
elles Leben. 

In den verflossenen Jahrhunderten war es verhaltnismafiig un- 
schadlich, wenn die Menschen aus dem Materialismus immer wieder 
irregefuhrt werden konnten in bezug auf das sogenannte Wieder- 
komrnen des Christus. Gerade in Zeiten, in denen in geringerem 
Mafie eine Ubergangszeit vorhanden war, wo sich vorbereitete, was 
heute als materialistischer Sinn auf einem Hohepunkt angelangt ist, 
da wurde zum Beispiel in weiten Kreisen Frankreichs verkundet, 
dafi im Jahre 1137 ein Messias erscheinen werde. Ein Messias ist da- 
zumal auch aufgetreten, der aber die Menschen irregefuhrt hat, weil 
der Glaube an ihn herausgeboren war durch den materialistischen 
Sinn, weil man glaubte, der Messias miifite im Fleische erscheinen. 
Dreifiig Jahre friiher erschien ein anderer Messias in Spanien; auch 
da wurde prophetisch vorherverkiindet, es wiirde ein Messias im 
Fleische erscheinen. Und ungefahr um dieselbe Zeit erschien ein an- 
derer neuer Messias in Nordafrika. Auch da war prophezeit worden, 
er werde von Osten kommen und im Fleische erscheinen. Und die 
ganze Zeit iiber, wo der materialistische Sinn sich vorbereitet hat da- 
durch, dafi die hochsten Dinge von ihm ergriffen wurden, erschie- 
nen derartige prophet ische Vorhersagungen, die durchaus fiir den, 
der die Zeiten kennt, etwas Bekanntes sind, bis hinein in das 17. 
Jahrhundert, wo weit und breit gepredigt wurde, es werde eine Art 
Christus, ein Messias, erscheinen, Das fand wiederum Glauben bei 
dem materialistischen religidsen Sinn der Menschen. Daher konnte, 
fufknd auf dieser Prophezeihung, ein falscher Messias im Jahre 1667 
in Smyrna auftreten, mit dem Namen Schabbathai Zewi. Er schrieb 
damals von Smyrna aus Episteln und Briefe, welche die Welt ebenso 
erschiitterten, trotzdem sie gar nichts waren als triigerische Dinge, 
weil sie im materialistischen Sinne gehalten waren als triigerische 
Dinge, weil sie im materialistischen Sinne gehalten waren, wie einst- 
mals die Paulus-Briefe die Welt erschiitterten. Im 17. Jahrhundert 
verbreitete sich von Smyrna aus die Kunde: Es lebt dort ein Messias 
im Fleisch! - Und Schabbathai Zewi der «Gerechte Gottes», wurde 



so angesehen, dafi man sagte, es werde jetzt die ganze Weltenzeit- 
rechnung eine ganz andere Gestalt annehmen: Er wird mit seinen 
Getreuen durch die Welt ziehen, und an ihn sollen glauben alle, die 
die Wahrheit sehen wollen, die den Christus im Fleische sehen wol- 
len! - Gepredigt wurde ihnen, dafi sein physischer Geburtstag als 
das groike Fest der Menschheit und der Erde gefeiert werden miisse! 
Ganze Scharen von Menschen pilgerten dahin, nicht nur aus Asien 
und Afrika, sondern auch aus Polen, Rutland, Spanien, Frankreich 
und so weiter. Ganze Ziige von Wallfahrern gingen nach Smyrna zu 
Schabbathai Zewi, der als Christus im Fleische auftrat, bis die Sache 
einen zu grofien Umfang annahm und Schabbathai Zewi vom Sultan 
gefangen gesetzt wurde. Da sagten die Leute: Das ist nur die Erful- 
lung einer Prophezeiung, denn es ist vorhergesagt, dafi er neun Mo- 
nate in Gefangenschaft sitzen werde. - Da wufite der Sultan sich 
nicht anders zu helfen, als dafi er Schabbathai Zewi unbekleidet auf- 
stellen liefi und sagte: Ich will an dir erproben, ob du wirklich ein 
Messias, ein Christus im Fleische bist, ich will nach dir schiefien las- 
sen! - Und da gestand endlich Schabbathai Zewi, dafi er nur ein ge- 
wohnlicher Rabbi sei. 

Solche Versuchungen gehen hervor aus dem materialistischen Sinn 
unserer Zeit. Und dergleichen wird wiederkommen, denn den mate- 
rialistischen Sinn werden die Menschen benutzen. Es wird oft und 
oft in den nachsten Jahrzehnten gesagt werden, was jetzt ausgespro- 
chen worden ist, daft sich die menschlichen Fahigkeiten bis zum 
atherischen Anblick des Christus hinaufentwickeln werden, an des- 
sen Realitat die Menschen dann ebenso sicher glauben konnen, wie 
Paulus selbst daran geglaubt hat! Das ist die nachste Zukunft der 
Menschheit, zu der heute die Geisteswissenschaft die Menschen vor- 
bereiten soli. Aber es wird durch den materialistischen Sinn der 
Menschen auch die Zeit der starken Versuchung kommen, wo fal- 
sche Messiasse wieder erscheinen werden im Fleische. Dann wird es 
sich zeigen, ob die Theosophen die Theosophie richtig verstanden 
haben werden! Die sie nicht richtig verstanden haben, die werden 
vom materialistischen Sinn so durchkrankelt sein, daft sie der Versu- 
chung verfallen werden. Trotzdem sie an den Christus glauben, wer- 



den sie an einen Christus im Fleische glauben. Die aber, welche Ver- 
standnis fiir wirkliches geistiges Leben gewonnen haben, die werden 
verstehen, dafi das «Wiederkommen des Christus» in unserem Jahr- 
hundert, als das grofite Ereignis, bedeutet: Der Christus kommt zu 
den Menschen im Geiste, weil die Menschen durch ihre Entwicke- 
lung zum Geistigen hin sich bis zum Christus entwickelt haben! 
Und dadurch erfahrt in unserem Jahrhundert die Bergpredigt eine 
vollige Modifikation. Alles wird sozusagen neugestaltet werden. 
Gotterfullt oder selig werden die sein, die durch ihr Betteln um 
Geist in den verflossenen Inkarnationen so weit gekommen sein 
werden, dafi sie hinaufgestiegen sein werden in jene Region der Rei- 
che der Himmel, wo ihnen der Christus vor das geistige Auge tritt! 

So konnte jeder einzelne Satz der Bergpredigt in seiner neuen Ge- 
stalt in diesem Sinne wiedergegeben werden. Das Christentum wird 
nur seine Urkunden wiedererobern konnen, wenn man es lebendig 
erfafit, wenn man weifi, dafi es kein Totes, sondern ein Lebendiges 
ist. In jener Zeit - und es ist unsere Zeit — , in der sozusagen die ma- 
terialistische Forschung dem Menschen das Evangelium und die 
Uberlieferung von dem Christus nimmt, wird, das ist oft betont 
worden, die geistige Forschung die Evangelien den Menschen wie- 
dergeben. Das ist ein Zusammentreffen, das nicht zufallig, sondern 
notwendig ist. Mogen in unserer Zeit, weil ihr materialistischer 
Sinn, der bis ins hochste gestiegen ist, an eine Krisis gekommen ist, 
immerhin gewisse arme Menschen auftreten, die aus einer irregelei- 
teten Philosophic zu der sonderbaren Anschauung kommen kon- 
nen, daft es Wirkungen ohne Ursachen gibt, dafi es keinen histori- 
schen Christus Jesus gegeben hat; das ist etwas, was dem Anthropo- 
sophen begreiflich sein soil. Er soil mit einem gewissen Mitleid sogar 
zu blicken wissen auf jene armen Menschen, die trotz ihrer Philoso- 
phic so in den materialistischen Sinn hineinverstrickt sind, daft sie 
sich iiberhaupt die Fahigkeit abgewohnt haben, den Geist zu ahnen 
und daher immerfort dem Satz, den sie sonst immer zugeben, ins 
Gesicht schlagen: Es gibt keine Wirkung ohne Ursache. Das Chri- 
stentum als Wirkung kann nicht da sein ohne Ursache! Anthroposo- 
phie wird es sein, die den Menschen aus der Geistesforschung heraus 



den Christus in jener Gestalt, in der er lebendig ist, lehren wird, 
werin diese Menschen diesen Lehren nur Verstandnis entgegenbrin- 
gen wollen, Verstandnis selbst so weit, dafi man klar erkennt: Der 
Christus wird wiederkommen, aber in einer hoheren Realitat, als die 
physische ist, in einer solchen Realitat, zu der man nur wird auf- 
schauen konnen, wenn man sich erst den Sinn und das Verstandnis 
fur das geistige Leben wird erworben haben. 

Schreiben Sie sich in Ihr Herz, was Anthroposophie sein soil: eine 
Vorbereitung fur die grofie Epoche der Menschheit, die uns bevor- 
steht. Lassen Sie es sich dabei nicht als etwas Wesentliches erschei- 
nen, ob die Seelen, die heute hier verkorpert sind, dann noch im 
physischen Leibe verkorpert sein werden, wenn der Christus in der 
geschilderten Weise wiederkommt, oder ob sie bereits durch die 
Pforte des Todes gegangen sind und in jenem Leben stehen, das zwi- 
schen Tod und der neuen Geburt ablauft. Denn was im 20. Jahrhun- 
dert geschieht, hat eine Bedeutung nicht nur fur die physische Welt, 
sondern fur alle Welten, mit denen der Mensch in Beziehung steht. 
Und ebenso wie die Menschen, die verkorpert sein werden zwischen 
den Jahren 1930 und 1950, erleben werden das Hinaufschauen zu 
dem atherischen Christus, ebenso wird ein gewaltiger Umschwung 
eintreten in der Welt, in der der Mensch lebt zwischen Tod und Ge- 
burt. Gerade so wie der Christus nach dem Mysterium von Golga- 
tha heruntergestiegen ist in die Reiche der Unterwelt, so gehen die 
Wirkungen der Ereignisse, die in unserer Zeit geschehen fur die Be- 
wohner des physischen Planes, hinauf in die geistigen Welten. Und 
den Menschen, die sich nicht durch Geisteswissenschaft vorbereiten 
werden auf das grofie Ereignis, denen entgeht in jener Zeit das Ge- 
waltige, das sich auch vollziehen wird in den geistigen Welten, in de- 
nen der Mensch dann lebt. Diese Menschen miissen dann warten bis 
zu einer neuen Verkorperung, urn dann auf der Erde zu erfahren, 
was sie fahig macht, den neuen Christus-Impuls zu empfangen. 
Denn zu alien Christus-Impulsen, wenn sie uns auch noch so hoch 
hinauftragen, miissen wir uns die Fahigkeit erringen auf dem physi- 
schen Plan. Nicht umsonst ist der Mensch so in die physische Welt 
hinunterversetzt worden: Hier miissen wir uns das aneignen, was 



zum Verstandnis des Christus-Impulses fiihrt! Fur alle Seelen, die le- 
ben, ist Geistesforschung die Vorbereitung auf das Christus-Ereig- 
nis, das uns in der nachsten Zukunft bevorsteht. Diese Vorbereitung 
ist notwendig. Und auf dieses Christus-Ereignis werden in den Vor- 
gangen der Menschheitsentwickelung andere folgen. Daher wird es 
gerade ein wichtiges Versaumnis sein fur die Menschen, die sich 
nicht zu dem Christus-Ereignis erheben wollen in unserem Jahrhun- 
dert, wo sie dazu Gelegenheit haben. 

Wenn wir so die Geisteswissenschaft betrachten und uns in die 
Seele schreiben, dann erst fiihlen wir, was sie jeder einzelnen 
Menschenseele ist, und was sie sein soil der gesamten Menschheit. 



FUNFTER VORTRAG 



Berlin, 9. Marz 1910 

Mit dem heutigen Vortrag soil eine Art Zusammenfassung dessen ge- 
geben werden, was wir in den verschiedenen Wintervortragen ge- 
hort haben, was wir anschliefien konnten an die Betrachtungen im 
Hinblick auf das Lukas-Evangelium und das Matthaus-Evangelium, 
und was hier referierend mitgeteilt worden ist in Anknupfung an die 
Vortrage iiber das Johannes-Evangelium, wie sie zuletzt in Stock- 
holm gehalten worden sind. So wie diese Vortrage gehalten worden 
sind, wird es Ihnen klar geworden sein, dafi alles in ihnen so angelegt 
worden ist, daft man nicht etwa im eingeschrankten Sinne eine Evan- 
gelien-Erklarung hat, sondern dafi aus den Wahrheiten, die nun er- 
stens schon einmal Wahrheiten sind und zweitens sich bei einem 
richtigen Verstandnis der christlichen Urkunden in den Evangelien 
finden, sich immer herausstellt, dafi uns auch die anderen Ratsel des 
Lebens in der mannigfaltigsten Weise von ihnen aus gedeutet und er- 
leuchtet werden konnen. 

Wenn wir zuruckgehen hinter die Begriindung des Christentums, 
finden wir zwei Arten, zwei Formen der Initiation: die Initiation des 
Nordens, die in jenen in Stockholm gehaltenen Vortragen naher 
charakterisiert worden ist, und die Initiation des Siidens, die beson- 
ders dadurch charakterisiert worden ist, dafi angeknupft worden ist 
an die Initiationsvorgange der altagyptischen Kultur. Von zwei 
Seiten her haben sich fur den Menschen der alten Welt die Moglich- 
keiten ergeben, in die geistige Welt einzudringen. Wenn der zu Initi- 
ierende im alten Agypterlande die geistige Welt hat erreichen wol- 
len, so stieg er herunter in die Untergriinde der eigenen Seele, stieg 
herunter hinter all das, was im gewohnlichen Seelenleben als Gedan- 
ke, Gefiihl, Wollen und so weiter vorhanden ist. Dort fand er das, 
woraus die Seele selbst hervorgegangen ist: das gottlich-geistige 
Dasein der Welt. Also ein Heruntersteigen unter diejenigen Regio- 
nen der Seele, die vom Ich durchglanzt und durchdrungen sind, war 
das Wesentliche der agyptischen oder der siidlichen Initiation iiber- 



haupt. Dagegen war ein Heraustreten des Menschen, ein Aufgehen 
in den Erscheinungen der Welt in ekstatischer Art dasjenige, worauf 
es in der nordlichen Initiation, vor allem in den germanischen Drui- 
den- und Trottenmysterien, ankam. Dann wurde auch schon cha- 
rakterisiert, wie in dem, was wir die christliche Initiation nennen, 
diese zwei Arten der Initiation zusammengeflossen sind, und wie 
gleichsam die christliche Initiation die hohere Einheit darstellt der 
ekstatischen Initiation des Nordens und der mystischen Versenkung 
bei der Initiation des Siidens. Damit aber ist auf einen tiefen Grund 
der Weltengeheimnisse hingewiesen, der durch alles Dasein geht. Im 
Grunde ist alles Besprechen, selbst einer so grofien gewaltigen Tatsa- 
che wie das Zusammenfliefien der beiden Initiationsformen des Al- 
tertums in die christliche Initiation, ein Beispiel fur ein noch umfas- 
senderes gro&es Gesetz, das alles Dasein der Menschen durchdringt 
und zu gleicher Zeit alles Dasein der aufteren Welterscheinungen, so- 
weit es der Mensch erkennen kann, durch webt. Das findet sich nam- 
lich iiberall, dafi uns entgegentreten wie Gegensatze die Glieder 
einer Zweiheit. Diese Glieder einer Zweiheit sehen wir wie Gegen- 
satze sich gegeniibertreten in der nordlichen und in der siidlichen In- 
itiation. Das ist nur ein Beispiel dafiir, wie Gegensatze, man konnte 
auch sagen Polaritaten, uns im Weltendasein entgegentreten. Und 
das andere, wie diese beiden Initiationsformen zusammenstromen 
und gleichsam eine geistige Ehe eingehen in der christlichen Initia- 
tion, ist ein Beispiel dafiir, wie Gegensatze, uberhaupt Zweiheiten in 
der Welt, sich vereinigen. Das geschieht unaufhorlich, dafi sich Ein- 
heiten in Zweiheiten teilen, um die Entwickelung weiterzufordern, 
und dafi sich Zweiheiten wiederum zur Einheit vereinigen. In aufier- 
licher Weise konnten wir hindeuten zunachst auf eine grofte, gewal- 
tige, gleichsam iiber die Menschheitsentwickelung hin reichende 
Tatsache, die diese Spaltung einer Einheit in die Zweiheit und der 
Wiederzusammenstromung der Zweiheit in die Einheit darstellt. 

Wir haben ofter hineingeleuchtet in das lemurische Zeitalter, das 
unter anderem auch die grofie Tatsache der Weltenentwickelung ge- 
sehen hat, da der Mond sich aus unserer Erde herausspaltete. Aber es 
sah dieses Zeitalter auch noch die ersten Anfange dessen, was wir im 



heutigen Sinne der Menschheitsentwickelung den Gegensatz von 
Mann und Weib nennen; wahrend wir in den der lemurischen Zeit 
vorangehenden Weltenaltern eine Einheit der Geschlechter finden 
wiirden. So haben wir eine urspriingliche Einheit auseinandertre- 
tend in Mann und Weib. Wir haben aber auch schon darauf hinge- 
deutet, dafi in der Zukunft diese Zweiheit sich wiederum in der Ein- 
heit vereinigen werde, daft wiederum eine Einheit aus dieser Zwei- 
heit entstehen werde. Das ist in aufierlicher Weise die Andeutung 
von umfassenden Tatsachenreihen, die in dieser Beziehung der Zwei 
zur Eins oder der Eins zur Zwei liegen. 

Was uns so in der Menschheitsentwickelung entgegentritt, ist aber 
im Grunde der Ausdruck, die Abbildung eines noch grofieren kos- 
mischen Gegensatzes, der in einer Einheit wurzelt, als Zwei uns im 
heutigen Weltenleben entgegentritt und in einer fernen Zukunft sich 
wieder in eine Einheit auflosen wird. Es ist notwendig, dafi wir jeden 
Gedanken, der uns durch Geisteswissenschaft heute gegeben wird, 
in seiner vollen Tiefe nehmen, dafi wir uns nicht angewohnen, die 
anthroposophischen Gedanken in derselben oberflachlichen Art 
hinzunehmen, wie andere Gedanken und Begriffe, die heute durch 
die Welt schwirren und die durch das Hastende und Oberflachlich- 
Banale unserer gegenwartigen Kultur hingenommen werden. Die an- 
throposophischen Gedanken mussen so tief wie moglich genommen 
werden. Daher darf auch ein solcher Gedanke, wie er ofter ausge- 
sprochen wird und gleichsam verborgen liegt in alien unseren Leh- 
ren: dafi der Mensch als eine kleine Welt, als Mikrokosmos herausge- 
boren ist aus dem Makrokosmos, aus der grofien Welt, nicht blofi als 
ein abstrakter Gedanke leicht hingenommen werden, sondern dieser 
Gedanke hat unendlich vielen, hundert- und hundertfachen Inhalt. 
Vor allem mufi man sich dariiber klar sein, dafi die Welt tiefer ist, als 
man gewohnlich glaubt, und dafi, wenn man einen Gegensatz oder 
eine Wahrheit einmal in einer Richtung begriffen hat, man keines- 
wegs die letzte Wahrheit iiber diese Beziehung oder diesen Gegen- 
satz begriffen hat, sondern man mufi geduldig uberall Umschau 
halten, um, wenn etwas nach der einen Seite gilt, es auch kennen- 
zuiernen nach der anderen Seite. 



Der Mensch ist aus dem ganzen Kosmos herausgeboren und mufi 
aufschauen zu dem Kosmos wie zu seinem Mutter- Vaterwesen, von 
dem er selbst ein Abbild darstellt. Ja, der Mensch ist ein Abbild der 
ganzen Welt, die ihm bekannt sein kann; und es ist nichts im 
Menschenwesen, was nicht in irgendeiner Art ein Verhaltnis zum 
Ausdruck bringen wiirde, das sich nicht auch irgendwie im groften 
Kosmos findet. Wenn wir den Menschen, wie er uns heute entgegen- 
tritt - und zwar geisteswissenschaftlich gesehen entgegentritt -, 
vergleichen konnten mit Menschengestaltungen in einer verhaltnis- 
maftig sehr friihen Zeit, dann fanden wir an diesem heutigen Men- 
schen ein Merkmal von ungeheurer Bedeutung, neben anderen na- 
turlich, zur Aufklarung iiber das Wesen des Menschen. Dieses Merk- 
mal kann jeden von uns lehren, daft es bei dem, was wir iiber die 
Welt wissen, nicht nur darauf ankommt, daft die Dinge wahr sind, 
sondern noch auf etwas ganz anderes. Damit, daft uns jemand bewie- 
sen hat, daft etwas wahr ist, hat er uns noch nicht das allerwichtigste 
Moment dieser Wahrheit enthiillt. Es ist zum Beispiel vieles wahr 
von dem, was eine triviale Naturwissenschaft sagt iiber den Ver- 
gleich des Menschen mit den hoheren S'augetieren. Daft der Mensch 
dieselbe Anzahl Knochen und Muskeln hat und dergleichen Dinge 
mehr, sind wahr, unbestreitbar wahr. Aber wenn man von irgendei- 
ner Sache bewiesen hat, daft sie wahr ist, hat man noch nicht alles ge- 
tan. Es muft gerade der Mensch durch geisteswissenschaftliche Ver- 
tiefung und Verinnerlichung sich klarmachen, daft es darauf an- 
kommt, sich bei jeder Wahrheit ein Gefuhl dafur zu erwerben, wie 
schwer die Wahrheit wiegt, ob sie wichtig oder unwichtig, wesent- 
lich oder unwesentlich ist zur Erklarung einer Sache. Daher kann es 
heute Leute geben, die kommen und uns aus ihrem trivialen Be- 
wufttsein heraus immer wieder beweisen, daft es ja wahr ist, was sie 
sagen. Das soli auch nicht bestritten werden. Aber ob etwas fur die 
Welterklarung in seinem richtigen Gewichte erkannt wird, darauf 
kommt es an! 

Nun gibt es eine gewisse Tatsache, die unzweifelhaft wahr ist und 
die jeder kennt, weil sie jedem taglich unzahlige Male begegnet, und 
die wir, wenn wir ihre Bedeutung und Wichtigkeit fur den Men- 



schen, ihr Gewicht fassen wollen, nur in der richtigen Weise fiihlen 
miissen, namlich die Tatsache, dafi der Mensch ein aufrechtstehen- 
des und aufrechtgehendes Wesen ist und mit seinem Antlitz in den 
Weltenraum hinaufschauen kann. Das kann nur der Mensch! Denn 
selbst von dem Affen miissen wir sagen, er sieht so aus, als wenn er 
sich um diese Mdglichkeit bemiiht hatte, aber er hat die Geschichte 
verpfuscht. Er kann es nicht. Der Mensch ist die einzige Wesenheit, 
die in bezug auf diese Absicht zu Ende gekommen ist, das Antlitz 
frei in den Weltenraum hinaufheben zu konnen. Diese Tatsache ist 
unendlich viel wichtiger als alles, was uns durch eine triviale Natur- 
wissenschaft liber die Stellung des Menschen in der Tierreihe gesagt 
werden kann. Alles andere ist ja wahr, aber dieses ist unendlich viel 
wichtiger. Wer etwas von dieser Tatsache fiihlen will, mufi sich da- 
mit bekanntmachen, wo die Veranlassung liegt, dafi der Mensch ein 
aufrechtgehendes Wesen ist, ein Wesen, das zwar an die Erde gebun- 
den ist, sich aber im Geiste durch seine Anschauung, schon durch 
seine sinnliche Wahrnehmung hinauserhebt in den Weltenraum. 

Diese Veranlassung liegt darin, dafi es einen gewissen Gegensatz 
gibt, eine Zweiheit, die sich im Kosmos so verhalt wie eine andere 
Zweiheit im Menschen. Wir konnen hinweisen auf eine Zweiheit im 
Weltall und eine Zweiheit im Menschen wie auf zwei Gegensatze, 
die sich im Mikrokosmos und Makrokosmos entsprechen. Der Ge- 
gensatz, der im Makrokosmos, in der grofien Welt gemeint ist, ist 
der Gegensatz von Sonne und Erde; und derselbe Gegensatz, der 
zwischen Sonne und Erde im Weltall besteht, besteht auch im Men- 
schen: es ist der Gegensatz zwischen Kopf und Handen und Fiifien, 
zwischen Kopf und Gliedmafien. Diese Dinge werden im Laufe der 
Zeit immer mehr und mehr ausgefiihrt werden, aber Sie miissen sich 
damit zunachst einmal andeutungsweise bekanntmachen und fiihlen 
lernen, dafi in gewisser Beziehung Kopf und Gliedmafien als eine 
Zweiheit im Menschen sich so verhalten, wie sich Sonne und Erde in 
unserem Sonnensystem selber verhalten. Denn in der Tat ruhen in 
unserer Erde die Krafte, welche sich im Laufe der Zeit herausgebil- 
det haben, geheimnisvolle Krafte, die den Menschen auf der Erde be- 
festigen und die gegenwartige Konfiguration und Bewegungsmog- 



lichkeit unserer Hande und Fiifie bewirkt haben, wahrend die Kraf- 
te, die sein Antlitz in den Weltenraum hinausgehoben haben, die ihn 
von einem Wesen, das die Erde anschaut, zu einem solchen gemacht 
haben, das in die unendlichen Weltenfernen hinausblicken kann, in 
der Sonne ihren Sitz haben. Und wer fiihlen und empfinden kann, 
der fiihlt und empfindet, wenn er die beim Menschen auftretende 
Gegensatzlichkeit von Kopf und Gliedmafien anblickt, dasselbe, als 
wenn er auf seine Empfindung wirken lafit den Gegensatz von Son- 
ne und Erde. Das ist ein solcher Gegensatz, der sich spater einmal im 
Menschenleben vereinigen wird, wie er sich im Kosmos vereinigen 
wird. Wie einst die Sonne und die Erde ein Wesen waren und sich 
getrennt haben, eine Zweiheit geworden sind, ebenso werden sie 
sich wieder vereinigen. Ebenso wird, was im Menschen Gegensatz 
ist zwischen Kopf und Gliedmafien, wiederum einmal eine Einheit 
werden, so schwer das vielleicht auch fur den heutigen Menschen, 
der solcher Begriffe ungewohnt ist, vorzustellen ist. 

So haben wir im Menschen hingedeutet auf einen Gegensatz und 
den entsprechenden Gegensatz im Weltall angefuhrt. Aber im Men- 
schen finden sich noch andere Gegensatze, die auch ihre entspre- 
chenden Gegenbilder im Weltall haben. In bezug auf den Gegensatz 
zwischen Kopf und Gliedmafien sind auf unserer Erde sozusagen alle 
Menschen gleich. Mann und Frau haben diesen Gegensatz in glei- 
cher Weise. Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und 
Frau, denn alles, was sonst als Gegensatz auftritt, zum Beispiel in der 
Seelenkonfiguration wird nicht durch diesen Gegensatz bewirkt. 
Wenn bloft dieser Gegensatz im Mikrokosmos und Makrokosmos 
bestande, wiirden Mann und Frau uberhaupt gleich sein. Aber Mann 
und Frau sind ein anderer Gegensatz im Menschen wesen. Und nun 
konnen wir uns fragen: Konnen wir im Weltall auch einen Gegen- 
satz finden, der im Menschenleben entspricht dem Gegensatz von 
Mann und Frau? Ist dieser Gegensatz, der im Erdendasein als Mann 
und Frau auftritt, auch herausgeboren aus dem Weltall? - Auch das 
gibt es. Und um diesen Gegensatz aufzusuchen, miissen wir uns jetzt 
ein wenig bekanntmachen im okkulten Sinne mit dem Gegensatz 
von Mann und Frau. Wir werden dabei nicht in den Fehler verfallen, 



in den unser materialistisches Zeitalter verfallt, das darauf ausgeht, 
den Gegensatz des Mannlichen und Weiblichen, wie er einfach als 
Geschlechtsgegensatz in der physischen Welt auftritt, auch auf das 
ganze Weltall anzuwenden. Das ist nicht nur eine Trivialitat, son- 
dern eine Ungezogenheit unserer Gelehrsamkeit, wenn sie das, was 
uns auf einem Gebiete entgegentritt, hinauserstreckt auf alle anderen 
Gebiete. 

Was sich auf unserer Erde als der Gegensatz von Mann und Frau 
manifestiert, dem entspricht im Weltall ein anderer Gegensatz, den 
wir nicht mannlich und weiblich nennen konnen. Das ware ein Un- 
ding. Aber wir miissen doch diesen Gegensatz einmal gerade in be- 
zug auf seine okkulte Grundlage vor unser Auge treten lassen. Die- 
ser Gegensatz des Mannlichen und des Weiblichen in unserer Erden- 
entwickelung hat natiirlich, wohlgemerkt, nichts zu tun mit dem 
«Menschen», der Mensch ist in Mann und Frau derselbe. Wenn man 
also von Mann und Frau spricht, bleibt man bei der Konfiguration 
von physischem Leib und Atherleib stehen, das hat nichts zu tun 
mit dem Innern des Menschen, so daft man nicht im okkulten Sinne 
so sprechen darf, wie heute in unserer materialistischen Zeit gespro- 
chen wird. Denn Mann und Frau haben auch einen astralischen Leib 
und ein Ich, wahrend die gewohnliche Anschauung iiberhaupt 
nichts kennt von dem, was den Menschen zum Menschen macht, 
und daher auch nur von Mann und Frau sprechen kann. Also wir 
sprechen jetzt nicht vom Menschen als solchem in Mann und Frau, 
sondern von dem, was den Menschen zum Mann oder zur Frau 
macht, und das ist nur die aufiere Hiille. Das mufi wohl verstanden 
werden. Wird von Mensch auf Mensch das angewendet, was in den 
nachsten Satzen gesprochen wird, dann ist alles falsch. Der Gegen- 
satz von Mann und Frau, in diesen Grenzen, liegt in folgendem. 

Die auftere menschliche Gestalt war ja ganz anders in den Urzeiten 
der Menschheit. Die gegenwartige Menschengestalt, also auch die ge- 
genwartige mannliche beziehungsweise weibliche Gestalt haben sich 
erst herausgebildet aus einer fruheren einheitlichen Gestalt, die noch 
nicht in den Gegensatz von Mann und Frau auseinandergefallen war. 
So haben wir also eine friihere Einheit und den heutigen Gegensatz 



von Mann und Frau. Nun wissen wir auch, dafi die friihere Einheit 
eine feinere, geistigere war. Der Mensch hat sich zu der dichten ma- 
teriellen Gestalt erst im Laufe der Zeit herausgearbeitet. Wir gehen 
also nicht blofi zuriick zu einer Einheit der Gestaltung, sondern 
auch zu einer Einheit, die gegen die heutige Gestalt eine geistigere 
war. Wir haben also einen Urmenschen, der sich weder als Mann 
noch als Weib darstellt, sondern als die noch nicht eingetretene 
Trennung dieses Gegensatzes, als die Einheit, und der feiner, atheri- 
scher, geistiger ist als der spatere materiellere Mensch, der sich in 
dem Gegensatz von Mann und Frau auslebt. Worauf beruht es nun, 
dalS aus der urspriinglichen Einheit spater Mann und Frau entstan- 
den ist? Das beruht darauf, daft die Frau, als die Einheit in die Zwei- 
heit trat, einen physischen Leib sich herausgebildet hat, der nicht 
vollstandig aus der friiheren Gestalt in die, wenn wir so sagen kon- 
nen, normale materielle Gestalt iibergegangen ist. Der Frauenleib ist 
auf einer geistigeren Stufe stehengeblieben, ist nicht bis zum vollen 
Mafie des Materiellen heruntergestiegen. Er ist zwar materiell, dicht 
geworden, aber er hat in dieser Materialitat eine friihere, geistigere 
Gestalt festgehalten. Es ist also eine geistige Stufe materiell gewor- 
den. Der Frauenleib hat gleichsam zuriickgehalten eine friihere 
geistige Gestalt, ist nicht vollstandig in die Materie heruntergestie- 
gen. Das ist er zwar in bezug auf das Materielle, aber nicht in bezug 
auf die Form. Er hat sich die Form, die der Mensch friiher gehabt 
hat, bewahrt. Daher konnen wir sagen: Die Frau stellt sich dar als 
die Offenbarung einer friiheren Gestaltung, die eigentlich geistig 
sein sollte und so, wie sie sich heute darstellt, eigentlich falsch ist, 
eine Maja, eine Illusion ist. Wenn wir einen gewissen springenden 
Punkt in der Entwickelung annehmen wiirden, auf dem sich das Ma- 
terielle kristallisiert, so konnen wir sagen: Die Frau ist nicht bis zu 
diesem springenden Punkt vorgedrungen, sie hat eine friihere Ge- 
stalt kristallisiert. Daher ist fiir den, der die Tatsachen des Lebens 
wirklich empfindet, oder imaginativ erkennen kann, der menschli- 
che Frauenleib nur in bezug auf Kopf und Gliedmaften einigerma- 
fien eine wahre Gestalt, ein Ausdruck seines ihm zugrunde liegenden 
Geistigen, das heifit nur in Kopf und Gliedmafien driickt sich etwas 



aus, was als materielle Erscheinung dem dahinterliegenden Geistigen 
ahnlich ist. Daher ist das dahinterliegende Geistige un'ahnlich der 
iibrigen materiellen Gestalt, denn diese ist eine falsche Gestalt. 

So also gilt der Satz, daft die Welt Maja ist, bis in alle Regionen hin- 
ein. Man mufi ihn wirklich ernst nehmen. In abstracto zu denken, 
die Welt ist Maja, ist bequem. Derjenige hat erst diesen Satz begrif- 
fen, der damit Ernst macht und fragt: Inwiefern sind nun diese Ge- 
stalten Illusion? - Die einen sind es mehr, die anderen weniger. Es 
gibt Gestalten, die wenigstens annahernd, im aufieren Gleichnis, das 
dahinterliegende Geistige ausdriicken: das sind Kopf und Gliedma- 
fien; aber es gibt Gestalten, welche direkt falsch sind, die verzeichnet 
sind, und dazu gehort die ubrige Leiblichkeit des Menschen. Die ist 
direkt verzeichnet. Und wenn einmal die Welt dies verstehen wird, 
wird man nicht mehr so toricht reden wie heute, sondern man wird 
sehen, dafi es ein gewisses tieferes, feineres kiinstlerisches Empfinden 
gibt, das sich selber sagt, daft die Frauengestalt verzeichnet ist, wenn 
man von Kopf und Gliedmaften absieht, und dafi man sie korrigie- 
ren mufi, wenn man sie kunstlerisch wiedergeben will. In besseren 
kiinstlerischen Zeiten hat man das auch wirklich durchgefuhrt, denn 
keiner, der wirklich Formen betrachten kann, kann sich der Ein- 
sicht verschliefien, dafi bis zu einem gewissen Grade die Formen 
korrigiert sind an der Venus von Milo. Das sehen nur gewohnlich 
die Menschen nicht. 

Also wir haben hier den Menschen zerteilt in Glieder, die wahrer 
sind, weniger Illusion sind, und in solche, die mehr Illusion sind, die 
ganz verzeichnet sind. Aber das gilt nicht nur von der Frau. Fur den 
Mann ist die Sache nur umgekehrt. Es ist der Gegensatz. Wie die 
Frauenform nicht bis zu dem normalen Punkt heruntergestiegen ist, 
um den entsprechenden Geist in der Materie auszudriicken, sondern 
sich auf einer friiheren Stufe kristallisiert hat, so hat der mannliche 
Leib den normalen Punkt iibersprungen und ist gerade so weit dar- 
iiber hinausgegangen, als die Frauenform davor stehengeblieben ist. 
Daher ist der mannliche Leib tiefer heruntergestiegen in die Materia- 
list, als es das normale Verhaltnis gewesen ware, und stellt das auch 
schon in seiner aufieren Gestalt dar. Er wiirde ganz anders aussehen, 



wenn er nicht den mittleren Punkt ubersprungen hatte. Der 
menschliche Leib ist iiberhaupt nur in bezug auf Kopf und Gliedma- 
fien wenigstens annahernd eine Wahrheit. In bezug auf die iibrige 
Gestalt aber miissen wir sagen, dafi der Frauenleib auf einem gewis- 
sen Punkte stehen geblieben ist, sich verfestigt hat, bevor er sich in 
die Wellen des materiellen Daseins hineingestiirzt hat, und uns daher 
eine ganz andere Gestalt zeigt, als diejenige ware, wenn er sich kri- 
stallisiert hatte, als ihn die Wellen des materiellen Daseins beriihrt 
haben; der mannliche Leib aber ist noch weiter untergetaucht und 
stellt in demselben Mafie eine falsche, verzeichnete Gestalt dar wie 
der Frauenleib. So stellt der Frauenleib eine ins Geistige, der mannli- 
che Leib dagegen eine ins Materielle verzeichnete Gestalt dar. Die 
wahre Gestalt wiirde in der Mitte liegen, wiirde eine Durchschnitts- 
gestalt von beiden sein. 

Das beeinflufit naturlich in seinem Erdendasein den ganzen Men- 
schen, insofern er eine physische Hulle hat. Mit dem Gegensatz zwi- 
schen Kopf und Gliedmafien hat das nichts zu tun, aber es iibertragt 
sich das, was jetzt gesagt worden ist, auf den ganzen Menschen in der 
einzelnen Inkarnation zwischen Geburt und Tod. Man inkarniert 
sich ja als Mann oder als Frau. Dadurch hat man mit dem zu rech- 
nen, was sich als verzeichnet bei Mann oder Frau auslebt. Aber das 
erstreckt sich auf den ganzen Menschen, und die Folge davon ist, 
wenn man in einer Inkarnation einen weiblichen Leib hat, dafi die- 
ser ganze weibliche Leib durchbeeinflufk ist von diesem mehr Zu- 
riickgebliebensein in einem urspriinglicheren, weicheren Formzu- 
stand. Und in einer mannlichen Inkarnation ist dieser ganze mannli- 
che Leib durchfiltriert von einem Zu-stark-untergetaucht-Sein in die 
grobe, feste Materie. Wenn man nur einmal im kleinsten Mafie den 
Begriff davon bekommen hat, was es heifit, im Geiste denken, im 
Geiste leben und den physischen Leib als ein blofies Werkzeug be- 
nutzen, wenn man sich nicht so darinnen stecken fuhlt, dafi man 
sich mit ihm identifiziert, dann kann man ein Lied singen gerade von 
der Misere, einen mannlichen Leib, der naturlich auch sein Gehirn 
infiltriert, in einer Inkarnation benutzen zu miissen. Denn man 
merkt, dafi auch die Formen des Gehirns, weil sie derber in die Ma- 



terie hineingegangen sind, schwerer zu handhaben sind als die wei- 
cheren, nicht so stark in die Materie hineingegangenen Formen des 
weiblichen Gehirns. Es ist in der Tat eine schwierigere Sache, wenn 
man in die hoheren Welten hinaufsteigen raufi, sich ein mannliches 
Gehirn zu trainieren, um die Wahrheiten in Gedanken umzusetzen, 
als ein weibliches Gehirn. Daher ist es nicht zu verwundern fur 
die Leute, die denken konnen, wenn eine Weltanschauung, die als 
Neues in die Welt tritt, wie die geisteswissenschaftliche, leichter ver- 
standen werden kann mit dem bequemer zu trainierenden weibli- 
chen Gehirn als mit dem mannlichen Gehirn, dem es schwerer ist, 
von gewissen Gedanken loszukommen, die es heute aufgenommen 
hat, weil das mannliche Gehirn schwerer zu bearbeiten, schwerer zu 
handhaben ist. Deshalb wird Geisteswissenschaft auch so schwer 
Eingang finden bei den Mannern, die heute in der Welt Kulturtrager 
sind und mit den gewohnlichen Kulturvorstellungen unseres heuti- 
gen Lebens behaftet sind. Wir miissen es durchaus verstehen, was fiir 
ein ungelenkes Ding das Gehirn eines Gelehrten ist, nicht nur, um 
Geisteswissenschaft aufzunehmen, sondern um mit dem, was es aus 
der Geisteswissenschaft aufnehmen kann, zu denken. Wir diirfen 
aber die Sache nicht auf den Kopf stellen und daraus irgendwelche 
Schlusse ziehen, oder hochstens den, daft wir es nun doch als etwas 
um so Bedeutungsvolleres empfinden miissen, wenn nun recht viele 
Manner ihr Gehirn so handhaben, dafi sie recht intim und nahe an 
die Geisteswissenschaft herankommen. Diese Dinge konnen ja zu- 
nachst nur angedeutet werden, aber wenn Sie dieselben auf sich 
so wirken lassen und dariiber nachdenken, werden Sie ungeheure 
Perspektiven fur das Menschenleben darinnen finden. 

Wenn wir das Menschenleben in seinem Gegensatz von Mann und 
Frau vor uns hinstellen, dann haben wir etwas, was wir ein auf einer 
friiheren Stufe Stehengebliebenes nennen konnen, und etwas, was ei- 
gentlich uber eine gewisse Stufe der Gegenwart hinausgeschritten ist, 
was in einem gewissen karikierten Zustand eine zukiinftige Form in 
die Gegenwart hereinnimmt, die eben daher karikiert erscheint. 
Eine friihere Gestalt des Leibes hat konserviert das Weibliche und 
eine spatere Gestalt hat hereingenommen das Mannliche und sie so 



ausgebildet, wie sie in der Zukunft nicht sein darf. Daher ist der 
mannliche Leib falsch geworden, weil er spatere Lebensbedingungen 
in einen friiheren Lebenszeitraum hineingestellt hat. 

Gibt es nun fur diesen Gegensatz des Mannlichen und Weiblichen 
auch eine Entsprechung im Kosmos? Gibt es im Kosmos etwas, was 
uns auf der einen Seite ein Dasein zeigt, eine Entwickelungsstufe, die 
gleichsam friihere Formen festgehalten hat und hineingetragen hat 
in ein spateres Dasein? Und gibt es auf der anderen Seite Formen, die 
eine gewisse Stufe uberschritten haben, also in karikierter Form 
einen Zukunftszustand darstellen? Wenn wir die konkrete Entwik- 
kelung, wie wir sie aus der Akasha-Chronik kennen, uns vor Augen 
stellen, konnen wir etwa fragen: Gibt es im Kosmos draufien etwas 
wie ein altes Mondendasein, das nicht herein wollte zum Erdenda- 
sein, sondern das aus dem alten Monddasein etwas zuriickbehalten 
hat wie ein Weibliches im Kosmos? Gibt es etwas, was wie ein altes 
Mondendasein eine friihere Stufe hereintragt in die Gegenwart? Und 
gibt es im Kosmos etwas, was eine gewisse Stufe uberschritten hat, 
sich verdickt und verdichtet hat, so dafi es einen spateren Zustand, 
einen Jupiterzustand darstellt? 

Das gibt es. Denselben Gegensatz wie mannlich und weiblich im 
charakterisierten Sinne beim Menschen gibt es draufien im Kosmos: 
Es ist der Gegensatz von Kometarischem und Lunarischem, von Ko- 
met und Mond. Wenn wir den Komet in bezug auf sein Wesen ver- 
stehen wollen, wie er heute, gleichsam durchbrechend die anderen 
Gesetze des Sonnensystems, im Weltenraum herumwandelt, dann 
mussen wir uns klarmachen, dafi es eigentlich die Gesetze des alten 
Mondendaseins sind, welche der Komet in unser Dasein hineintragt. 
Das hat er sich bewahrt und ist damit in unser Dasein hineingegan- 
gen. Er hat die gegenwartige Materie des Sonnen-Erdensystems ange- 
nommen, ist aber stehengeblieben in bezug auf Bewegung und sein 
Wesen auf der Stufe der Naturgesetzlichkeit, die unser Sonnensy- 
stem hatte, als die Erde noch Mond war. Er hat einen friiheren Zu- 
stand hereingetragen in einen spateren, in die Gegenwart, wie der 
weibliche Leib einen friiheren Zustand in das gegenwartige Dasein 
hereintragt. Das Kometarische ist der eine Teil eines solchen Gegen- 



satzes, das Mondendasein als sein Gegensatz stellt die andere Seite 
dar. Als der Mond in der lemurischen Zeit sich aus der Erde heraus 
entwickelte, hat er gewisse Teile mitgenommen, die herausgenom- 
men werden mufken aus der Erde, damit sich der Mensch iiberhaupt 
als Mensch entwickeln konnte. Die Erde durfte nicht so dicht wer- 
den, wie sie geworden ware, wenn sie den Mond in sich behalten hat- 
te. Der Mond stellt in der Tat einen karikierten Jupiterzustand dar. 
Wie sich eine frische, reife Frucht darstellt gegeniiber einer, die, ganz 
verrunzelt, sich in die Materie hinein versteinert hat, so ist der Mond 
in seiner Konfiguration iiber eine gewisse mittlere Gestalt hinausge- 
schritten, wie das Mannliche im Menschen in seiner Form bei der 
Gestaltung diese Mitte iiberschritten hat. Ganz denselben Gegen- 
satz, den wir im Menschenleben haben als den Gegensatz des Mann- 
lichen und Weiblichen, haben wir im Kosmos zwischen Lunari- 
schem und Kometarischem. 

So gehoren die Dinge zusammen: wie Sonne und Erde, so Kopf 
und Gliedmafien, wie Mond und Komet, so Mann und Frau im 
Menschen. Nur diirfen wir damit nicht wieder nach Hause gehen 
und sagen: Nun, da haben wir ja wieder etwas, was wir uns so 
hubsch als einen Gegensatz merken konnen! - Wir miissen die Din- 
ge tief ernst nehmen und uns klar sein, dafi zu anderen Zeiten noch 
etwas anderes gesagt worden ist. Wir miissen in Betracht ziehen, dafi 
der Mann nur in bezug auf seinen physischen Leib mannlich ist, in 
bezug auf seinen Atherleib dagegen weiblich, und daiS umgekehrt die 
Frau nur in bezug auf ihren physischen Leib weiblich ist. Was fiir 
das Weibliche des Weibes gilt fiir den physischen Leib, das gilt auch 
fiir den Atherleib des Mannes, so dafi auch der Atherleib des Mannes 
zum Atherleib der Frau sich verhalt wie Komet zum Mond. Wenn 
Sie nun wollen, konnen Sie sagen: Dadurch verschwimmt ja wieder- 
um alles! - Aber so sind die Dinge. In jeder Kultur, die ihre Begriffe 
geschaffen hat mit einem verdickten Gehirn, gehen ja die Begriffe 
darauf hinaus, moglichst dicke Konturen zu schaffen, an denen gar 
nicht geriittelt werden kann, so dafi man, wenn man solche Begriffe 
hat, ganz daran festhalten mufi. Das lafit sich aber der Geist nicht ge- 
fallen. Der Geist ist etwas Bewegliches, und wenn wir uns Begriffe 



gebildet haben, miissen wir sie beweglich erhalten. Daher miissen 
wir auch fiir das Mannliche in der Frau und fur das Weibliche im 
Manne durchaus das anwenden, was eben von Mond und Komet in 
bezug auf Mann und Frau gesagt worden ist. Es gilt eben das, was ge- 
sagt worden ist, in bezug auf das Mannliche und Weibliche, wie es 
uns im Menschenleben entgegentritt, und nicht fiir Mann und Frau, 
wie sie uns aufierlich entgegentreten. 

So haben wir im eminenten Sinne interessante Zusammenhange 
zwischen Menschenentwickelung und Weltenentwickelung gefun- 
den. Ganz gewifi wird - ich habe auch schon darauf aufmerksam ge- 
macht - derjenige, der heute auf dem kurulischen Stuhl der wahren 
wissenschaftlichen Weltanschauung sitzt, solche Dinge uber Komet 
und Mond hochst verriickt und narrisch finden. Er mag es tun. 
Er hat eben nicht den Willen, auf die Wahrheit wirklich einzu- 
gehen. Wir auf dem Boden der Geisteswissenschaft konnen die 
Briicke ziehen zwischen dem, was aus dem Geistigen kommt, und 
dem, was auf dem physischen Plan sich uns darstellt. Die anderen 
wollen es nicht. 

Im Jahre 1906 wahrend des Kongresses in Paris habe ich darauf 
aufmerksam gemacht, daft die Geistesforschung aus ihrer Erkenntnis 
der kometarischen Natur sagen kann: Weil auf der Erde Verbindun- 
gen von Kohlenstoff und Sauerstoff dieselbe Rolle spielen, welche 
wahrend des alten Mondendaseins die Verbindungen von Kohlen- 
stoff und Stickstoff gespielt haben, das heilk Zyanverbindungen, so 
mull das kometarische Dasein blausaureartige Verbindungen enthal- 
ten, Zyanverbindungen, die sich aus Kohlenstoff und Stickstoff zu- 
sammensetzen. Diejenigen, die diese Dinge aufmerksam verfolgt ha- 
ben, werden sich das bewahrt haben. So ist also aus der Geisteswis- 
senschaft heraus langst gesagt worden, dafi unsere Kometennaturen 
irgendwelche zyanartige Verbindungen enthalten. In den letzten 
Wochen ist diese Tatsache als eine aufiere spektralanalytische Tatsa- 
che durch die Zeitungen gegangen. Es ist das nur ein Fall, hundert 
andere konnten ebenso angefuhrt werden, wie die Geistesforschung 
ihre Briicke ziehen kann zu den Tatsachen der aufieren Forschung. 
Spektralanalyse hat in diesem Falle nach Jahren das konstatiert, was 



aus der Geisteswissenschaft heraus bereits vor Jahren gesagt worden 
ist. Nirgends widersprechen die Tatsachen der aufieren materialisti- 
schen Forschung den Tatsachen der Geistesforschung! Auf so etwas, 
wie das eben Gesagte, darf man sich berufen, wenn diejenigen, die 
auf dem kurulischen Stuhl der wahren Wissenschaft sitzen, immer 
wieder kommen und auf die aufieren Tatsachen hinweisen. Wir diir- 
fen die aufieren Tatsachen nur nicht verwechseln mit den engbe- 
grenzten Begriffen, welche die Menschen sich selber ziehen. Wenn 
das alles Tatsachen waren, was heute Naturwissenschaft ist, dann 
wiirde die Naturwissenschaft sehr der Geisteswissenschaft wider- 
sprechen; aber das sind gar nicht Tatsachen, sondern nur korrupte 
Begriffe derjenigen, die durch unsere heutigen Zeitverhaltnisse eben 
berufen sind, mit den Dingen zu hantieren. 

Nun konnen wir uns noch das Folgende fragen, nachdem wir uns 
diesen Gegensatz vor Augen geriickt haben, der sich im Menschenle- 
ben ebenso wie im Kosmos findet: Was wird denn damit eigentlich 
herausgeboren aus dem Weltall, wenn wir diesen ganzen Gegensatz 
des Kometarischen und Lunarischen ins Auge fassen? 

Es ist etwas schwer, das ganz Gewaltige, was dieser Tatsache zu- 
grunde liegt, in einer verhaltnismafiig kurzen Zeit zu charakterisie- 
ren. Daher gestatten Sie einmal, dafi ich davon ausgehe, vergleichs- 
weise das Menschenleben zu charakterisieren, wie es verfliefit, wenn 
wir es in seinem aufieren Verlauf betrachten. Da gibt es zunachst et- 
was, von dem man sagen konnte, es verlauft im guten Sinne burger- 
lich von Tag zu Tag. Man steht des Morgens auf, nimmt das erste 
Friihstuck, dann geht es weiter nach dem, was eben jeder Tag bringt 
nach den gewohnlichen Gesetzen des Tages. Aber es gibt auch in die- 
sem Leben des Menschen Ereignisse, die hineinschlagen und mit 
einem Schlage Veranderungen in den Verlauf des Alltags bringen. 
Nehmen wir einmal an, ein Mann und eine Frau leben so recht gut- 
biirgerlich eine Zeitlang dahin mit dem gewohnlichen, nur wenig va- 
riierten Tagesprogramm. Aber etwas anderes kommt, was tatsach- 
lich eine Art Ruck bildet im gewohnlichen aufieren Leben derjeni- 
gen Menschen, die unter solchen Verhaltnissen stehen. Ein solcher 
aufierer Ruck ist es, wenn ein neuer Mensch sich verkorpert, als Er- 



denburger ins Dasein hineintritt. Das unterscheidet sich gewaltig 
von dem gewohnlichen Gang des alltaglichen Lebens. Wenn aber ein 
neuer Weltenbiirger hereintritt in den Horizont von Mann und 
Frau, so fallt damit tatsachlich etwas hinein, was dem ganzen Fami- 
lienzusammenhang ein neues Geprage gibt. Das wollte ich zum Ver- 
gleich heranziehen, weil wir dadurch den tiefen okkulten Hinter- 
grund des Kometendaseins ein wenig zum Verstandnis bringen kon- 
nen. Es verlauft sozusagen auch im Kosmos das Leben von Tag zu 
Tag, von Jahr zu Jahr «gut-biirgerlich». Es geht da jeden Tag dasselbe 
vor: Die Sonne geht auf und unter, die Pflanzen bliihen im Fruhling, 
im Herbst dorren sie ab; und wenn es einmal Regen oder Sonnen- 
schein gibt, oder Hagelschlag oder dergleichen eintritt, so entspricht 
das den Ereignissen, die auch sonst im gewohnlichen Leben gesche- 
hen, wenn zum Beispiel statt des gewohnlichen Tees einmal ein fest- 
liches Kaffeekranzchen veranstaltet wird. Solche Dinge sehen wir 
durchaus im gewohnlichen Trott fortgehen. Das alles hangt zusam- 
men mit den Gesetzen, die einmal den Bewegungen von Sonne, Erde 
und so weiter zugrunde liegen, und wie sie sich Jahr fur Jahr, Tag fiir 
Tag vollziehen. Aber in diesen Gang ragen in merkwiirdiger Weise 
herein die selteneren, aber sich doch wiederum in gewisser Bezie- 
hung wiederholenden Erscheinungen der Kometen. Sie ragen ebenso 
herein in den Gang der kosmischen Geschehnisse wie ein neuer Er- 
denbiirger, der in den Horizont von Mann und Frau hereintritt. 
Durch das Erscheinen des Kometen im Kosmos wird tatsachlich in 
das Menschheitsdasein etwas hineingefiihrt, was nicht auf dem ge- 
wohnlichen Gang des Lebens gegeben werden konnte. Es mufi, 
wenn die Entwickelung fortgehen soil, nicht blofi das geben, was 
sich von Tag zu Tag wiederholt, sondern es mu£ Neues hineingefugt 
werden in diesen Zusammenhang. Wie in das einzelne Familienle- 
ben mit einem neuen Erdenbiirger etwas ganz Besonderes hinein- 
kommt, so kommt in den Fortschritt des Menschengeschlechtes auf 
der Erde durch diese, den gewohnlichen Fortgang des Weltendaseins 
durchbrechende Erscheinung des Kometen etwas ganz anderes hin- 
ein. Es wird tatsachlich gleichsam etwas Neues geboren, wenn der 
Komet in die Welt tritt. 



Fur den, der geistig diese Dinge untersuchen kann, gibt es dabei 
die Moglichkeit, ganz genau darauf hinzuweisen, wie die einzelnen 
Kometen ihre Funktionen haben, dieses oder jenes geistig Neue hin- 
einzufuhren in die Welt. So ist der Halleysche Komet einer von den- 
jenigen, der so, wie er periodisch erscheint, immer wieder etwas 
ganz bestimmtes Neues gebiert im Menschenleben. Wahrend sich 
sonst die Dinge in der gewohnlichen Weise wiederholen, bringt der 
Komet eine seelisch-kulturelle Neugeburt hervor. Was damit ge- 
meint ist, kann ich Ihnen charakterisieren, wenn ich nur die drei 
letzten Erscheinungen des Halleyschen Kometen anfuhre von den 
Jahren 1759, 1835 und diejenige, vor der wir gegenwartig stehen. 
Was fiir eine Aufgabe - andere Kometen haben andere Aufgaben - 
kommt diesen drei letzten Erscheinungen zu? 

Neugeburten im Weltall sind nicht blofi solche, welche wir mit 
derselben Freude begrufien wie einen jungen Erdenbiirger, der in 
eine Familie hineintritt. Im Weltall wird alles geboren, was die 
Menschheit vorwarts- oder aber auch zuriickbringt. Nun hangt das 
Erscheinen des Halleyschen Kometen, das heifit also, was er geistig 
bedeutet fiir die Fortentwickelung der Menschheit, mit demjenigen 
zusammen, was die Menschheit aufnehmen mufite aus dem Kosmos 
in den verschiedenen Zeiten des Kali Yuga, um immer mehr in be- 
zug auf das Denken in die Materialitat hineinzusteigen. Mit jedem 
neuen Erscheinen wurde fiir die Menschheit ein neuer Impuls gebo- 
ren, um aus einer spirituellen Weltanschauung das Ich herunterzu- 
treiben, um die Welt materialistischer aufzufassen. Nicht ein Herun- 
tersteigen in die Materie ist gemeint, sondern dasjenige, was das 
menschliche Ich aus dem Weltall aufnehmen mufi an geistiger Sub- 
stanz, um von einem spirituellen Dasein hinunterzutreiben in die 
Sphare der mater ialistischen Anschauungen. Alle diejenigen An- 
schauungen aus der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts, die man die 
«seichte Aufklarung» nennt, und die Goethe so verspottet hat in 
«Dichtung und Wahrheit» als jene Anschauungen, wie sie zum Bei- 
spiel in Holbachs «Systeme de la Nature» ihren Vertreter gefunden 
haben, sie begreift man kosmisch durch die Erscheinung des Halley- 
schen Kometen vom Jahre 1759. Der banalen materialistischen Lite- 



ratur vom zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ging voran die Er- 
scheinung des Halleyschen Kometen vom Jahre 1835. Die Dinge, die 
auf der Erde geschehen mikrokosmisch, hangen makrokosmisch zu- 
sammen mit den Dingen in der grolSen Welt. Mit der Erscheinung 
des Halleyschen Kometen vom Jahre 1835 war wiederum geboren 
ein neuer Impuls in den Materialismus herunter. Und Biichner, Vogt 
und Moleschott sind diejenigen, die auf der Erde ausleben, was aus 
dem Kosmos herunter wie ein gewaltiges Zeichen mit dem Halley- 
schen Kometen erschienen ist. Und jetzt stehen wir davor - weil die 
Menschheit eben gepruft werden mufi, sich aus sich selber emporrin- 
gen mufi, die Widerstande der Spiritualitat fuhlen mufi, um dann um 
so mehr Krafte zu ihrem Aufstieg zu entfalten - , jetzt stehen wir da- 
vor, dafi wir mit dem neuen Erschemen des Halleyschen Kometen 
aus dem Weltall zugesendet erhalten die Krafte, welche die Mensch- 
heit in einen noch flacheren, in einen noch abscheulicheren Materia- 
lismus herunterfuhren konnen. Geboren werden kann etwas, was 
sich vielleicht selbst die flachsten Flachlinge des Buchnerianismus 
nicht denken konnen. Diese Moglichkeit mufi gegeben sein. Denn 
nur, wenn der Mensch die ihm widerstrebenden Machte iiberwin- 
det, kann er sich die hinauffuhrenden starken Krafte aus dem Weltall 
aneignen. 

Wenn wir das ins Auge fassun, werden wir in der richtigen Weise 
dem gegeniiberstehen, was wir Zeichen des Himmels nennen kon- 
nen. Es ist durchaus der Fall, wenn es nur nicht aberglaubisch aufge- 
fafit wird, sondern im Sinne der groften Weltengesetze: Es steckt der 
Herrgott wieder einmal die Himmelsrute heraus, um den Menschen 
zu zeigen, was sie zu tun haben. Und die gegenwartige Erscheinung 
des Halleyschen Kometen ist eine solche, die beachtet werden mufi. 
Denn es mufi ein gewaltiger Impuls zum Aufstieg erfolgen, um her- 
auszukommen aus dem Versunkensein in eine materialistische Welt- 
anschauung zur Spiritualitat. Wie uns die Moglichkeit gegeben ist, in 
den Materialismus hinein zu versumpfen, so ist uns auf der anderen 
Seite die Moglichkeit gegeben, hinaufzusteigen zu helleren, geistige- 
ren Hohen. 

In den letzten Vortragen ist klar und deutlich erwahnt worden, 



daft sich noch in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts als natiirliche 
Eigenschaft bei einzelnen Menschen ein atherisches Hellsehen aus- 
bilden kann. Damit der Mensch nicht weiter herunterzusinken 
braucht in den Materialismus, was ihm durch ein Zeichen jetzt, 
1910, angedeutet wird, kann heute schon fur denjenigen, der Ver- 
standnis fur Geisteswissenschaft hat, das vor Augen stehen, dafi sich 
im Schofie der menschlichen Seele die Krafte entwickeln, die den 
Menschen iiber alien Materialismus hinuberfuhren konnen. Wenn 
der Mensch diese Krafte versteht, werden sie ihn lehren konnen, sel- 
ber die atherische Natur des Christus zu sehen. Wir leben an einem 
wichtigen Kreuzungspunkt, wo selbst durch Zeichen vom Himmel 
dem Menschen gelehrt wird, dalS der Weg nach der einen Seite noch 
weiter in den materialistischen Sumpf gehen kann, nach der anderen 
Seite jedoch dahin, wo sich die Krafte beim Menschen entwickeln 
miissen, die nach dem Ablauf des Kali Yuga zum atherischen Hellse- 
hen fuhren. Es steht wahrhaftig so mit uns, daft der Ruf Johannes 
des Taufers: Andert die Seelenverfassung! - auch fiir unsere Zeit 
gilt. Das kann durchaus betont werden. Wie uns auf der einen Seite 
die Moglichkeit gegeben ist, in dem materialistischen Sumpf zu ver- 
kommen, ist uns auf der anderen Seite die Moglichkeit gegeben da- 
durch, dafi die Sonne im Friihlingspunkt einen gewissen Punkt im 
Sternbild der Fische erreicht, das zu gewinnen, was ein gewisses 
atherisches Hellsehen ist. Auch fur den spirituellen Aufstieg sind die 
Zeichen im Kosmos da, die uns anzeigen, wie die Krafte aus dem 
Kosmos kommen. Der Mensch mufi dadurch, dafi er sich in die 
Geisteswissenschaft hineinfindet, sich ein Verstandnis aneignen fiir 
diese Entscheidung. Und erst der versteht Geisteswissenschaft recht, 
der sich fiir diese Entscheidung das Verstandnis aneignet. Hindurch- 
schreiten miissen wir durch die Prufung, die uns auferlegt wird 
durch Zeichen des Himmels, und die wir jetzt erkannt haben zum 
Beispiel in dem Erscheinen des Halleyschen Kometen. 

Stellen wir uns nun die Christus-Erscheinung vor, wie sie fur die 
ersten Vorzugler in den nachsten 2500 Jahren auftreten wird, wie es 
fiir den Paulus vor Damaskus der Fall war. Der Mensch wird aufstei- 
gen zur Erkenntnis der spirituellen Welt, wird durchsetzt sehen die 



physische Welt mit einem neuen Lande, mit einem neuen Reich. 
Verandert wird in den nachsten 2500 Jahren der Anblick der physi- 
schen Umgebung fiir den Menschen sein, indem hineintreten wird 
fur ihn ein atherisches Gebiet, das da ist, das aber der Mensch erst 
wird sehen lernen miissen. Dieses atherische Gebiet liegt jetzt schon 
vor demjenigen ausgebreitet, der seine esoterische Schulung bis zur 
Erleuchtung gebracht hat, auch vor dem Eingeweihten des Kali 
Yuga. So ist das, was in Zukunft die Menschen immer mehr und 
mehr sehen werden, fiir den Eingeweihten bis in hohe Hohen hinauf 
da. Und der Eingeweihte holt sich immer wieder nach einer be- 
stimmten Zeit, wenn er es braucht, Krafte aus diesem Gebiet. Er 
holt sich seine Krafte, wenn er etwas auszufuhren hat, aus jenem Ge- 
biete des fiir den Eingeweihten sichtbaren Erdenkreises, der da ist, 
aber nur fiir den Menschen, der hineinschauen kann. Das kann uns 
ein Verstandnis dafur geben, dafi wir wissen, dafi ein Teil jenes Lan- 
des, aus dem der Eingeweihte immer wieder wahrend des Kali Yuga 
seine Krafte geschopft hat, fiir einen grofien Teil der Menschheit 
wahrend der nachsten 2500 Jahre ausgebreitet sein wird. 

Friiher, in den Zeiten eines uralten Hellsehens, konnte der 
Mensch ohne das starke Ich-Bewufksein hineinschauen in die geisti- 
ge Welt, so dafi er damals schon in gewisser Weise das gesehen hat, 
was er jetzt wieder sehen wird, aber jetzt so, dafi er hineintreten 
wird mit seinem neuen Selbstbewufitsein. Damals sah er es in traum- 
haft ekstatischen Zustanden, oder beim Hineinschauen in die eigene 
Seele. Damals war diese Welt vorhanden vor dem Blick, der wah- 
rend des Kali Yuga nur ein physischer Blick geworden ist. Daher er- 
zahlen uns die Traditionen, welche sich ein Andenken an das alte 
Hellsehen bewahrt haben, von einem unbekannten Marchenlande, 
das dem Blick des heutigen Menschen entschwunden ist. Und es gibt 
in der morgenlandischen Literatur wunderbare Schriften mit einem 
eigenartigen tragischen Zauber in ihrem Inhalt, der etwa sagt: Es hat 
einmal im Menschenreich die Moglichkeit gegeben, hinzupilgern zu 
einem Lande, wo herausgeflossen ist alles Geistige in ein physisch 
Sinnliches. Es ist das Land, aus dem in entsprechenden Zeiten die 
Eingeweihten, und aus dem die Bodhisattvas immer wieder ihre 



Kraft schopfen. Mit tiefer Wehmut wird von diesem Lande in den 
orientalischen Schriften gesprochen, wo es in einigen etwa heifit: 
Wo ist es? Es wird uns gesagt, wie die Orte heifien, Wege werden ge- 
nannt, aber selbst vor den angesehensten Lamas des tibetanischen 
Gebietes hat es sich verborgen. Nur den Eingeweihten ist es zugang- 
lich! Aber es wird davon erzahlt, dafi dieses Land wieder zur Erde 
kommen werde. Und das ist wahr: Es wird zur Erde kommen! Und 
der Fuhrer dazu wird derjenige sein, den die Menschen sehen wer- 
den, wenn sie durch das Ereignis von Damaskus hineingelangen wer- 
den in das Land «Schamballa». Schamballa, so heifit das Land, hat 
sich zuriickgezogen vor dem Blick der Menschen. Es ist heute nur zu 
betreten fiir die, welche sich als Eingeweihte nach bestimmten Zei- 
ten ihre Kraftigung von dort zu holen haben. Die alten Krafte fuh- 
ren nicht mehr in das Land Schamballa. Daher sprechen die orienta- 
lischen Schriften mit so tragischer Wehmut von dem untergegange- 
nen Lande Schamballa. Aber es wird das Christus-Ereignis, das 
durch die erwachten neuen Fahigkeiten in diesem Jahrhundert den 
Menschen beschert sein wird, wiederbringen das Marchenland 
Schamballa, das wahrend des Kali Yuga im Grunde nur der Einge- 
weihte kennen konnte. 

So also steht die Menschheit vor der Entscheidung: Entweder mit 
dem, was durch den Halleyschen Kometen kommt, heruntergefiihrt 
zu werden in eine Finsternis, die noch unter dem Kali Yuga liegt, 
oder durch anthroposophisches Verstandnis nicht zu ubersehen das- 
jenige, was veranlagt ist an neuen Fahigkeiten, um die Wege zu fin- 
den nach dem Lande, das heute gemafi der orientalischen Literatur 
verschwunden ist, das aber der Christus der Menschheit wieder zei- 
gen wird: nach dem Lande Schamballa. Das ist der grofte Punkt am 
Scheidewege: Entweder hinunter oder hinauf; entweder in etwas, 
was als ein Welten-Kamaloka noch unter dem Kali Yuga liegt, oder 
in das, was dem Menschen moglich macht jenes Gebiet zu betreten, 
was in Wahrheit gemeint ist mit der Bezeichnung Schamballa. 



SECHSTER VORTRAG 



Berlin, 2. Mai 1910 



In diesen Wintervortragen hat uns von den verschiedensten Seiten 
her viel die Frage beschaftigt nach dem Wesen des Christus, und wir 
haben in der mannigfaltigsten Weise klarzulegen versucht, was wir 
den Christus-Impuls in der Menschheitsentwickelung nennen, als 
das Gewaltigste innerhalb unserer ganzen Erdenentwickelung. Da- 
her kann es begreiflich erscheinen, dafi erstens dieses Thema iiber- 
haupt nicht erschopft werden kann, sondern dafi man sozusagen 
Unendliches zu tun hatte, wollte man den Christus-Impuls allseitig 
klarlegen. Auf der anderen Seite kann aber wieder auch das klar sein, 
daft nach alien unseren Voraussetzungen im Grunde genommen al- 
les, was den Menschen interessieren kann, an die Besprechung der 
Christus-Erscheinung anzuschliefien ist. Wir haben ja gesehen, dafi 
die Evangelien selbst von vier verschiedenen Seiten her dem Wesen 
des Christus nahezukommen suchen, und wir haben verschiedenes 
angedeutet iiber die Geheimnisse der einzelnen Evangelien. 

Nur bis zu einem gewissen Grade konnten wir in das Matthaus- 
Evangelium hineinleuchten. Es wird nun spateren Vortragen iiber- 
lassen bleiben mussen, im Zusammenhang wieder zuriickzukom- 
men auf die Geheimnisse des Matthaus-Evangeliums, um dann hin- 
einzusteigen in die Tiefen des Markus-Evangeliums. Wiirden wir 
jetzt am Ende des Winters in unserem Zweige auch nur mit einigen 
skizzenhaften Andeutungen auf das hinweisen wollen, was uns noch 
iibriggeblieben ist, so wiirde das zu sehr fur die nachsten Zeiten die 
Geschlossenheit der Vortrage zerstoren. Daher sollen heute und das 
nachste Mai von mir Fragen beriihrt werden, die in gewisser Bezie- 
hung von einer anderen Seite her an das Christus-Problem heran- 
kommen, und zwar soli heute beriihrt werden die Frage nach dem 
Zusammenhang des menschlichen Gewissens mit dem Einschlag des 
Christus-Impulses in die Menschheitsentwickelung. Damit wird zu- 
gleich noch etwas anderes erreicht. Am nachsten Donnerstag haben 
wir den offentlichen Vortrag iiber das menschliche Gewissen, und 



auch heute soil hier im Zweige iiber dasselbe Thema gesprochen 
werden. Damit wird aber eine ganz bestimmte Absicht verfolgt, eine 
Absicht, die spater noch ofter vor unser geistiges Auge treten soil. Es 
soli namlich gezeigt werden, dafi iiber denselben Gegenstand in einer 
andern Art gesprochen werden soil innerhalb einer solchen Arbeits- 
gruppe, in der wir uns befinden, als in einem offentlichen Vortrage, 
der auch fur diejenigen bestimmt ist, die der geisteswissenschaftli- 
chen Bewegung noch nicht angehoren. Der Anthroposoph soli ja 
unter den mancherlei Dingen, die sich als Eigenschaften festsetzen 
sollen in seinem Gemiit, auch ein Gefiihl dafiir bekommen, dafi man 
den Dingen der Welt von den verschiedensten Standpunkten und 
Seiten beikommen soli, und dafi der, welcher schon gewisse Voraus- 
setzungen hat, anders iiber eine Sache sprechen und horen kann als 
jemand, der solche Voraussetzungen nicht hat. Wenn wir in einer 
Arbeitsgruppe sprechen, so setzen wir voraus, dafi das Gemiit sich 
bis zu einem gewissen Grade hineingelebt hat in die Vorstellungen 
einer geistigen Welt, drinnensteht in Empfindungen und Gefiihlen 
von der geistigen Welt, und dafi aus diesen Empfindungen, Gefiihlen 
und Gedanken, die iiber die geistige Welt aufgenommen worden 
sind, sich zusammenfugen kann eine Vorstellung iiber eine solche 
Sache, wie das menschliche Gewissen es ist. Es kann also aus viel in- 
tensiveren Tiefen heraufgeholt werden die Antwort auf solche Fra- 
gen in einer Arbeitsgruppe als in einem offentlichen Vortrag, der 
vor einem nicht anthroposophischen Publikum gehalten wird. Sol- 
len ja doch diese offentlichen Vortrage die Aufgabe haben, durch die 
Erscheinungen des Seelenlebens, die man zunachst wie aufiere Erleb- 
nisse heranzieht, nach und nach erst etwas wie eine Art Beweis dafiir 
herbeizutragen, dafi die Wahrheiten, die wir in der Geisteswissen- 
schaft kennen, wirklich Wahrheiten sind. Das ist eine andere Aufga- 
be als fur den Geisteswissenschafter selber zu sprechen, der gewisse 
Voraussetzungen, Uberzeugungen, vielleicht auch gewisse Anschau- 
ungen iiber die geistige Welt schon mitbringt. Der Geisteswissen- 
schafter soil sich eben nach und nach aneignen, die Begriffe und Vor- 
stellungen, welche ihm dies und jenes erklaren, in der verschieden- 
sten Weise aus den verschiedensten Quellen und Seiten herholen zu 



lernen, und der Geisteswissenschafter soil sich abgewohnen lernen 
die Unart, die aber notwendigerweise im aufteren Leben bestehen 
muli, als ob man nur in einer Art und Weise iiber eine Sache spre- 
chen konnte. 

Das menschliche Gewissen ist etwas, was uns ja im Tiefsten der 
Seele beriihren mui Und wo uns seit Jahrhunderten Philosophen 
oder sonstige Denker iiber die Welt entgegentreten, da ist es in der 
Regel auch die Frage nach dem, was man das menschliche Gewissen 
nennt, die sie interessierte. Man konnte nun gerade einer solchen Er- 
scheinung wie dem Gewissen gegeniiber sich leicht einer Illusion 
hingeben: der Illusion, die hier schon ofter eben als Illusion bezeich- 
net worden ist, und die darin bestehen wiirde, daft man glaubte, alles 
was in der menschlichen Seele heute gegenwartig ist, das sei schon 
immer dagewesen. Wir haben aber gesehen, dafi die verschiedensten 
Seelenfahigkeiten und Seelenvorgange, welche sich im Menschen im 
Laufe der Jahrtausende entwickelt haben, in der Urzeit ganz andere 
waren, als sie gegenwartig sind. Und auch mancherlei von dem, was 
wir heute als das Teuerste, als das Bedeutsamste besitzen in unserem 
Seelenleben, haben unsere Seelen nicht gehabt, als sie vor vielen 
Jahrtausenden in anderen Verkorperungen auf der Erde wandelten. 
Das Durchgehen durch verschiedene Verkorperungen hat ja einen 
Sinn. Wir haben das oft betont. Es hat den Sinn, dafi die Seele, indem 
sie sich von Verkorperung zu Verkorperung entwickelt, immer 
neue Fahigkeiten und Krafte sich aneignen kann, daft die Seele wirk- 
lich eine Geschichte durchmacht, dafi ihr Erdendasein eine Lehrzeit 
ist, dafi sie etwas anderes gewesen ist in der Zeit, als unsere Verkor- 
perungen begonnen haben, und etwas anderes ist jetzt, und etwas 
anderes sein wird in einer fernen Zukunft. 

Auch das menschliche Gewissen, dieses teure Gut der Menschen- 
seele, welches wie eine Gottesstimme ruft gegeniiber dem Guten 
und gegeniiber dem Bosen in jedem individuellen Menschen, auch 
diese teure Gabe des menschlichen Innern ist nicht immer dagewe- 
sen. Auch dieses Gewissen ist etwas, was sich entwickelt hat. Und es 
ist sogar verhaltnismaftig noch nicht lange her, seit sich dieses 
menschliche Gewissen ankiindigte und sich seitdem immer weiter 



und weiter entwickelt hat. Und wenn es auch ein teures Gut ist, so 
ist es dehnoch nicht dazu berufen, immer in derselben Weise durch 
alle folgenden Inkarnationen hindurch in der menschlichen Seek zu 
leben, so wie jetzt. Es wird sich weiter entwickeln, es wird andere 
Gestalten annehmen, wird sich erweisen als etwas, was sich der 
Mensch anzueignen hat, was ihm Friichte tragen wird, und was in 
spateren Zeiten, wenn er diese Friichte haben wird, etwas sein wird, 
auf das er zuriickblickt und sagt: Es gab eine Epoche, da wurde es 
mir moglich, auf dem Durchgange von Inkarnation zu Inkarnation 
meinem Seelendasein das einzuverleiben, was das Gewissen ist, und 
jetzt habe ich die Friichte von dem, was ich einst meiner Seele ein- 
verleibt habe. - Wie wir heute zuriickschauen auf eine Zeit, wo un- 
sere Seelen in anderen Verkorperungen waren und das noch nicht 
hatten, was wir heute Gewissen nennen, so werden in spateren Zei- 
ten unsere Seelen einstmals zuriickblicken auf unsere gegenwartigen 
Inkarnationen und werden sagen: Heil jener Vergangenheit! Dank 
jenen Gaben, die uns in der Vergangenheit geworden sind als 
menschliches Gewissen! Hatten wir damals nicht das menschliche 
Gewissen entwickeln konnen in unsern Seelen, so wurde uns jetzt 
das fehlen, was wir brauchen zu dem jetzigen Leben! 

Daraus schon sehen wir, dafi das Gewissen zu den seelischen Gu- 
tern der Gegenwart gehort, und dafi es etwas wie Verstandnis unse- 
rer Gegenwart ist, wie Verstandnis des Seelenlebens unserer Gegen- 
wart, wenn wir etwas verstehen von der Natur und dem Wesen des 
menschlichen Gewissens. Dafi es entstanden ist, darauf wurde ja in 
manchem Zusammenhange schon aufmerksam gemacht. Darauf 
wird auch am nachsten Donnerstag hingedeutet werden, dafi man 
sozusagen mit Fingern hinweisen kann auf den Zeitpunkt, wo das 
Gewissen fur die menschliche Seele erst entdeckt worden ist. Wenn 
wir einige Jahrhunderte zuriickgehen in das alte Griechenland, so 
finden wir kaum ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn der christli- 
chen Zeitrechnung den grofien Dichter Aschylos. Wenn wir bei ihm, 
bei diesem gewaltigen Genius der griechischen Urdramatik uns um- 
sehen, wenn wir seine Gestalten auf uns wirken lassen, so finden wir 
in seiner Dramatik das, was wir heute mit dem Ausdruck Gewissen 



bezeichnen, noch nicht mit einem ahnlichen Ausdruck bezeichnet. 
Ein halbes Jahrtausend vor dem Beginn der christlichen Zeitrech- 
nung gibt es fur den grofken Dramatiker noch keinen Ausdruck fur 
das, was wir heute als das menschliche Gewissen bezeichnen. Wenn 
er ausdriicken will den menschlichen Seelenvorgang, der dem ent- 
sprechen wiirde, was wir heute Gewissen nennen, dann mufi er es in 
der Weise tun, dafi jemand, der zum Beispiel das Unrecht des Mut- 
termordes begangen hat, durch die Gewalt dieses Ereignisses ins 
Geistige hineinschaut und Gestalten sieht im Geistigen, die das alte 
Griechentum die Erinnyen, das spatere Rdmertum die Furien ge- 
nannt hat. Das heilk, wer ein Unrecht wie den Muttermord getan 
hat, der vernimmt bei Aschylos nicht das, was wir heute die vorwer- 
fende Stimme des Gewissens im eigenen Innern nennen, sondern 
ihn drangt etwas, geistig zu schauen die Gestalten, die wie die Racher 
seiner Tat ihn umgeben. 

Das ist einer der besonderen Beweise, die Sie finden konnen in der 
geschichtlichen Entwickelung der Menschheit fur das, was in umfas- 
sender Weise eben charakterisiert worden ist. Das menschliche See- 
lenvermogen war in alten Zeiten ganz anders. Wir haben immer be- 
tont, dafi die menschliche Seele sich erst nach und nach entwickelt 
hat zu ihrer jetzigen Fahigkeit, die physisch-sinnliche Welt durch die 
Sinne so wahrzunehmen, wie sie es heute kann, und den Verstand so 
zu gebrauchen, wie sie ihn heute gebraucht. Wir haben betont, dalS 
die Seele in alten Zeiten als normales Vermogen ein gewisses Hellse- 
hen hatte. Dieses Hellsehen trat zur Zeit des Aschylos nur noch in 
besonderen Fallen ein. Hellsichtig wird die Seele zum Beispiel, um 
das zu schauen, was sie in der physischen Welt durch ihr Unrecht 
angerichtet hat. Hellsichtig wird die Seele des Orest, nachdem er den 
Muttermord begangen hat. Da sieht sie, welche Geister sie durch 
ihre Tat wachgerufen hat in der geistigen Welt. Die dringen an sie 
heran. Nicht im Innern der Seele sitzt so etwas wie das Gewissen, 
sondern hellsichtiges Bewulksein tritt auf, um die Unordnung zu se- 
hen, die wachgerufen ist dadurch, dafi in der physischen Welt ein 
Unrecht begangen worden ist. Das wiirden wir in alten Zeiten iiber- 
all finden: Wer ein Unrecht getan hat, hort noch nicht die warnende 



Stimme des Gewissens, denn die Seele ist in alten Zeiten im Zustan- 
de des Hellsehens und sieht da, was entstanden ist in der, Aufienwelt 
durch das Unrecht. 

Was geschieht denn, wenn ein Unrecht begangen worden ist? Da 
wird durch uns selber in der geistigen Welt etwas geschaffen. Es ist 
nur materialistisches Vorurteil, dafi ein Unrecht voriibergehen 
kann, ohne dafi dabei in der geistigen Welt etwas geschaffen wird. 
Das Unrecht erzeugt ganz bestimmte Vorgange in der geistigen 
Welt, Wirkungen, die von uns ausstrahlen, unsichtbar fur die aufiere 
Sinnenbeobachtung, aber vorhanden fur geistiges Schauen. Und sol- 
che geistigen Vorgange, die von jemandem ausstrahlen, der ein Un- 
recht getan hat, bedeuten Nahrung fur gewisse Wesenheiten, die in 
der geistigen Welt tatsachlich vorhanden sind. Solche Wesenheiten 
konnen an den Menschen nicht immer heran. Wenn er keine solche 
Ausstrahlungen hat, wie sie von einem unrechten Tun kommen, 
dann konnen sie nicht an ihn heran. Es geht mit ihnen gerade so wie 
mit einer Stube: Wenn die Stube ganz rein ist, konnen keine Fliegen 
darinnen sein. Es sind auch keine drinnen. Aber wenn die Stube alles 
mogliche Schmutzige hat, Speisereste und so weiter, da sind die Flie- 
gen gleich da. In dem Augenblick, wo der Mensch ausstrahlt durch 
seine schlechten Taten gewisse geistige Ausstrahlungen, da sind um 
ihn herum Wesenheiten, die sich davon nahren. Diese Wesenheiten 
lalk der grofie griechische Tragiker Aschylos um Orest herum sein. 
Was wir heute als innere Stimme vernehmen, das ist dem griechi- 
schen Tragiker Aschylos noch so bewufit, dafi er es in aufteren Ge- 
stalten auftreten lafit, weil er weifi, dafi in besonderen Fallen immer 
noch das eintrat, was in alteren Zeiten ein Gemeingut aller Seelen 
war: ein gewisses hellsichtiges Bewufksein. Von allem friiheren 
bleibt etwas fur spatere Zeiten zuriick und tritt dann als Atavismus 
auf, aber nur in abnormen Fallen. Daher ist es nicht etwas, was zu ta- 
deln ware, wenn bei Shakespeare zum Beispiel noch etwas ahnliches 
auftritt, gleichsam ein objektiviertes Gewissen. 

Dann aber brauchen wir nur wenige Zeit weiterzugehen in der 
griechischen Kunst, von Aschylos zu Euripides, und Euripides, der 
spatere Tragiker, zeigt uns, dafi er den Begriff des Gewissens bereits 



hat. So sehen wir im alten Griechenland, wie in dem halben Jahr- 
tausend vor der christlichen Zeitrechnung der Begriff des Gewissens 
nach und nach erst auftritt. Suchen Sie sich im Alten Testament ein 
Wort fiir das, was wir heute Gewissen nennen: Sie werden es nicht 
finden. Gewissen ist etwas, was als Fahigkeit erst in die Menschen- 
seele eingezogen ist. Und wenn wir nicht kurze Spannen Zeiten be- 
trachten, sondern grofie Zeitraume, dann konnen wir sehen, dafi das 
Gewissen etwas ist, was in die Menschenseele seinen Einzug gehalten 
hat auch ungefahr in derselben Zeit, als der Christus-Impuls in der 
Seele Platz gegriffen hat. Man mochte sagen, fast wie ein Schatten 
folgt das Gewissen dem Christus-Impuls, wie er eintritt in die welt- 
geschichtliche Entwickelung. Um das nun zu verstehen, mussen wir 
heute nun mancherlei in uns lebendig machen, was wir im Laufe der 
Jahre uns angeeignet haben, und was wir fruchtbar machen mussen 
zum Begreifen dessen, was das menschliche Gewissen eigentlich ist. 

Wenn wir begreifen wollen in einem tieferen Grunde, was das Ge- 
wissen ist, so mussen wir gerade jenen Zeitpunkt ins Auge fassen, in 
welchem die menschliche Entwickelung sich dem Christus-Impuls 
nahert, diesen Christus-Impuls aufgenommen hat und dann in unse- 
re Zeit hinein weitergeschritten ist. Wir wissen, dafi wir es dabei zu 
tun haben mit drei Kulturepochen unserer Menschheitsentwicke- 
lung, die wir bezeichnen als die agyptisch-chaldaische Kultur, die 
griechisch-lateinische Kultur und als unsere gegenwartige Kultur. 
Die zwei vorhergehenden Kulturen, die uralt-indische und die urper- 
sische, konnen wir jetzt unberiicksichtigt lassen, denn da waren un- 
sere Seelen noch weit entfernt, dasjenige auch nur zu ahnen, was wir 
heute mit dem Begriff des Gewissens bezeichnen. In der agyptisch- 
chaldaischen Kultur sehen wir allmahlich, wie sich vorbereitet alles, 
was dann zu der hochsten Hohe emporgestiegen ist, die es erreichen 
konnte, um in der griechisch-lateinischen Kultur den bedeutsa- 
men Impuls zu erlangen, der als der Christus-Impuls aufgenommen 
worden ist. Und wir sehen dann in unserer eigenen Zeit die Epo- 
che, wo dieser Impuls verarbeitet wird. Und immer grofier und be- 
deutungsvoller wird dieses Verarbeiten in dem kommenden Zeit- 
alter werden. 



Wenn wir uns nun noch etwas genauer erinnern an diese Entwik- 
kelung, die sich vollzieht von der agyptisch-chaldaischen Zeit durch 
die griechisch-lateinische Epoche bis in unsere Zeit hinein, so tritt 
uns da vor die Seele, dafi in jeder dieser Epochen insbesondere ein 
Glied der menschlichen Seele entwickelt wird. Von den drei Glie- 
dern der menschlichen Seele ist wahrend der agyptisch-chaldaischen 
Zeit entwickelt worden dasjenige, was wir die Empfindungsseele 
nennen, das heifit, wir mufiten in agyptisch-chaldaischen Leibern 
einstmals verkorpert sein, damit wir in die Lage kamen, in regelrech- 
ter Weise jene Fahigkeiten in uns aufzunehmen, die zu der besonde- 
ren Ausbildung der Empfindungsseele taugen. Dann haben wir als 
Seelen jene Eigenschaft mitgenommen in die nachsten Verkorperun- 
gen wahrend der griechisch-lateinischen Epoche, um jetzt auszubil- 
den die Verstandes- oder Gemiitsseele. Und mit den Friichten, die 
wir aus der griechisch-lateinischen Epoche gewonnen haben, leben 
wir in unseren jetzigen Verkorperungen, um nun allmahlich das zu 
immer hdherer Entwickelung kommen zu lassen, was wir die Krafte 
der Bewufitseinsseele nennen. So wird unsere Seele als Mensch gera- 
de wahrend diesen drei Zeitaltern ausgebildet. Und wenn unsere 
Zeit voruber sein wird, dann wird unsere Seele aufsteigen zu der 
Entwickelung der Fahigkeit des Geistselbst. Das wird in der sechsten 
Kulturepoche sein. Da sehen wir, welchen tiefen Sinn es hat, dafi wir 
aufeinanderfolgende Verkorperungen durchmachen. Es hat den 
Sinn, daft wir uns dadurch nach und nach aneignen diejenigen Fahig- 
keiten, welche wir als die der menschlichen Seele kennen, und im 
weiteren Umfange auch diejenigen, welche dann iiber das blofie See- 
lenleben hinausgehen. 

Also wahrend der agyptisch-chaldaischen Kultur haben unsere 
Seelen sich angeeignet die Krafte der Empfindungsseele und haben 
diese Krafte zur Entfaltung gebracht, wahrend der griechisch-lateini- 
schen Zeit die Krafte der Verstandesseele oder Gemiitsseele. Bis zur 
Verstandesseele mufite der Mensch normalerweise heraufdringen, 
dann konnte der Christus-Impuls auf ihn ausgeiibt werden. 

Nun aber war in einer ganz verschiedenen Weise diese Ausbildung 
an den verschiedenen Punkten der Erde geschehen. Wenn wir nam- 



lich mit einer gewissen Bequemlichkeit der Seele glauben wollten, 
dafi sich in der Entwickelung der Menschheit alles moglichst einfach 
vollzieht, so werden wir niemals zum Begreifen der Menschheitsent- 
wickelung kommen konnen. Vieles mull man kennenlernen, um die 
grofien Gedanken der leitenden Weltwesen einigermafien nachden- 
ken zu konnen! Und es ist der grofite Hochmut, wenn der Mensch 
den Satz ausspricht, dafi die Wahrheit einfach sei; denn da will er die 
Wahrheit nach seiner Bequemlichkeit drechseln. Es ist nur eine 
Frucht der Bequemlichkeit, wenn gesagt wird, die Wahrheit miisse 
einfach sein. Aber die Wahrheit ist eine komplizierte, weil der Geist 
der leitenden Weltwesen von uns nur begriffen werden kann, wenn 
wir die hochsten Anstrengungen machen, um uns in die Gedanken 
der leitenden Weltengeister ~ auch bis in die subtilsten Gedanken 
hinein - zu vertiefen. So diirfen wir auch nicht glauben, dafi wir 
schon alles erschopft hatten, wenn wir sagen: Unsere Seelen haben 
sich durch die agyptisch-chaldaische Kultur, durch die griechisch- 
lateinische Kultur und durch unsere jetzige Kulturepoche hinaufent- 
wickelt. Versetzen wir uns fiir einen Augenblick in die Zeit, da es 
noch kein griechisch-lateinisches Wesen gab, sondern nur erst die 
agyptisch-chaldaische Kultur. 

In dieser Zeit lebten in den Gegenden Griechenlands und* in den 
Landern des romischen Reiches auch Menschen; sie lebten sozusa- 
gen vor der griechisch-lateinischen Zeit in den Landern der spateren 
griechisch-lateinischen Kultur. Und auch in unseren Gegenden, auf 
dem Boden, den wir heute betreten, lebten Menschen in der Zeit, als 
die agyptisch-chaldaische Kultur sich in Asien und Afrika abspielte. 
Wahrend in Asien und Afrika zur Zeit der agyptisch-chaldaischen 
Kultur gewisse Seelen im eminentesten Sinne das durchmachten, 
was sie vorbereiten sollte zum Empfang des Christus-Impulses, leb- 
ten in den Gegenden der spateren griechisch-lateinischen Kultur an- 
dere Seelen, die sich vorbereiteten, etwas ganz anderes hinzuzubrin- 
gen zur Gesamtentwickelung der Menschheit. Ebenso lebten in un- 
seren Gegenden Menschen, die sich zu etwas anderem vorbereiteten. 
Nicht nur, dafi in den aufeinanderfolgenden Zeiten unsere Seelen 
verschiedene Fahigkeiten aufnehmen, sondern in denselben Zeiten 



leben die Seelen auch nebeneinander. Dadurch wird in der verschie- 
densten Weise auf die Seelen gewirkt, und dadurch entsteht eine wei- 
tere Komplikation in der Entwickelung. Es wird damit der Mensch- 
heitsentwickelung mehr gebracht, als wenn alles in gerader Linie 
fortliefe. In der Tat mufken Vorbereitungen gemacht werden so- 
wohl auf griechisch-lateinischem Boden als auch in unseren Gegen- 
den, damit von den verschiedensten Seiten her in die Kulturentwik- 
kelung das Rechte mit hineingebracht wurde. Eine ganz andere Auf- 
gabe hatten die asiatischen und afrikanischen Volker, eine ganz ande- 
re die sudeurop'aischen Volker, und wiederum eine ganz andere Auf- 
gabe hatten die Volker des mittleren und des nordlichen Europa. Sie 
hatten alle ganz verschiedenes hinzuzubringen zu der Gesamt- 
Menschheitsentwickelung, und sie konnten verschiedenes hinzu- 
bringen, weil ihre Anlagen und ihre ganze Ausbildung eine wesent- 
lich andere war als die der andern. 

Wenn wir namlich unseren Blick richten auf die agyptisch-chalda- 
ischen Volker, auf die Seelen, welche gerade in der "agyptisch-chalda- 
ischen Kultur ihren Hohepunkt erreichten, so miissen wir sagen: 
diese Volker entwickelten damals gewisse Fahigkeiten der Empfin- 
dungsseele, welche man eben ganz besonders entwickeln kann, 
wenn man jene wunderbaren Lehren aufnimmt, die damals aus den 
agyptischen Heiligtiimern flossen, oder die wunderbare Astrologie, 
die aus den chaldaischen Heiligtiimern kommen konnte. Was aus 
den verschiedenen Kulturst'atten fliefit, ist dazu da, die Seelen vor- 
wartszubringen. Denn im Grunde ist die wahre Bedeutung dessen, 
was aus den verschiedenen Kulturstatten fliefk, nicht dasjenige, was 
diese Kulturstrdmungen als Inhalt haben, sondern was sie zur Ent- 
wickelung der menschlichen Seele beitragen. Der Inhalt vergeht! 
Und nur die, welche im tieferen Sinne gar nicht bei Trost sind, kon- 
nen glauben, dafi in einigen Jahrhunderten unsere heutige Wissen- 
schaft nicht ebenso hinuntergesunken sein wird in den Schofi der 
Vergessenheit, wie gewisse Dinge der agyptisch-chaldaischen Kultur 
in die Vergessenheit heruntergesunken sind. Wer glauben wiirde, 
dafi in der kopernikanischen Weltanschauung ewige Errungenschaf- 
ten gegeben sind, der irrt sich ganz gewaltig; sie wird spater ebenso 



etwas Uberwundenes sein wie die Errungenschaften der agyptischen 
Kultur heute. Ihrem Inhalte nach gehen diese Dinge vorbei wie auch 
manches andere in der Menschheitsentwickelung. Wir treten zum 
Beispiel hin vor jenes wunderbare Bild, welches Ihnen alien wenig- 
stens in Abbildungen bekannt sein wird, das «Abendmahl» von Leo- 
nardo da Vinci. Wenn wir es heute in Mailand sehen wollen, sehen 
wir es nur noch in ganz schwachen Umrissen, und wir wissen, es 
wird nicht lange dauern, dann wird nichts mehr zu sehen sein von 
dem, wohinein Leonardo da Vinci seine beste Kraft gelegt hat. 
Ebensowenig wird spater einmal noch etwas zu sehen sein von den 
herrlichen Werken Raffaels, welche heute die Seele so tief ergreifen, 
wenn Sie sie auf sich wirken lassen. Alle diese Werke werden in 
Staub zerfallen, und eine Erinnerung daran wird auf dem physischen 
Plan nicht mehr da sein. Der Inhalt dieser Werke wie der Inhalt der 
Kulturen geht in den Tod hinunter. Aber wenn wir zum Beispiel 
vor diesen Bildern stehen, dann sollen wir daran denken, dafi sie Raf- 
faels Seele entflossen sind, und dafi Raffaels Seele eine andere gewor- 
den ist, nachdem sie diese Bilder aus sich hervorgezaubert hatte, als 
sie vorher war. Und die Millionen und Millionen von Menschen, die 
sich daran erheben, nehmen den Inhalt der Bilder in ihre Seelen auf 
und werden dadurch etwas anderes. Und wenn die ganze Erde ein- 
mal in Staub zermalmt sein wird - was sie ganz gewift sein wird - , 
dann wird von den aufieren Einrichtungen der Kulturen nichts mehr 
vorhanden sein, aber was die Seelen aufgenommen haben, das wird 
in die Ewigkeit mit hiniibergehen. Fur die Menschenseelen ist das 
da, was die Kulturen bieten, was aus Agyptens und Chaldaas Heilig- 
tiimern geflossen ist an fur die damalige Zeit hehrem Weisheitsin- 
halt. Vorwarts kommen sollten die Menschenseelen um ein entspre- 
chendes Stiick. Und um was sie vorwarts gekommen sind, um das 
waren sie reifer, wieder neue Giiter entgegenzunehmen; jene Giiter, 
die dann in der griechisch-lateinischen Kultur wieder die Seelen um 
ein Stiick vorwarts brachten. Hatten unsere Seelen nicht das aufge- 
nommen, was sie in der griechisch-lateinischen Zeit aufnehmen 
konnten, so konnten sie sich jetzt nicht in die Bewufkseinsseele hin- 
einleben. Das ist der Fortgang in der Zeit. 



Wenn wir uns an manches erinnern, was auch in den offentlichen 
Vortragen gesagt worden ist, so wissen wir, dafi in den drei Seelen- 
gliedern dasjenige wirkt, was wir das Ich nennen. Aus dem Chaos 
der seelischen Erlebnisse, die uns in der Empfindungsseele, Verstan- 
desseele und Bewufkseinsseele entgegentreten, entwickelt das Ich 
sich nach und nach heraus, kristallisiert sich aus all dem heraus, aber 
nicht in gleicher Weise an den verschiedenen Punkten der Erde. 
Wahrend zum Beispiel in Asien und Afrika, als die agyptisch-chalda- 
ische Kultur vor sich ging, die Menschen sich so entwickelten, dafi 
sie dort noch lange auf ihre Seele haben wirken lassen die Offenba- 
rungen der chaldaischen und agyptischen Heiligtiimer, hatten die 
Volker Europas, die davon entfernt waren, sich so entwickelt, dafi 
sie gewissermafien schon etwas vorausgenommen hatten. In den eu- 
ropaischen Gegenden hatten die Menschen in der Empfindungsseele 
schon in gewisser Weise das Ich entwickelt, ein starkes Gefuhl, eine 
starke Empfindung fur das Ich. 

Hier sind wir an einem ganz unendlich wichtigen Punkt. Nach 
Asien und Afrika hiniiber sind die Menschen gezogen, die mit ihrem 
Ich warteten zu der Zeit, wo in der Empfindungsseele schon vorher 
das entwickelt war, was durch die agyptischen und chaldaischen 
Heiligtiimer entwickelt werden konnte. Da waren in der Gegend 
der agyptisch-chaldaischen Kultur Seelen inkarniert, welche mehr 
oder weniger ohne ein deutliches Gefuhl von der Ichheit zu haben, 
hohe Lehren, eine hohe Kultur aufnahmen. In eine sich ihres Ich 
noch nicht bewufite Empfindungsseele wird im alten Chaldaa die 
hohe Kultur, die dazumal bestanden hat, hineinversenkt. Hier im 
Norden wird nicht eine so hohe Kultur in die Seele versenkt. Da 
bleibt die Seele mehr oder weniger unkultiviert, aber sie entwickelt 
dafur in dieser Unkultur, in dieser nicht von irgendwelchen Offen- 
barungen der Heiligtiimer durchgluhten Empfindungsseele ein Ich- 
Bewufitsein. Wir konnen sagen: Bei den agyptisch-chaldaischen Vol- 
kern verspatet sich das Ich-Bewufitsein, es lafit zuerst die Empfin- 
dungsseele eine gewisse Kultur aufnehmen, bis die spateren Seelen- 
glieder entwickelt sein werden. In Europa wartet das Ich nicht, son- 
dern es entwickelt sich schon in der Empfindungsseele. Es wartet 



aber dafiir mit der Aufnahme gewisser Kulturgiiter, bis die spateren 
Seelenglieder entwickelt sein werden. So haben wir in Asien und 
Afrika solche Seelen verkorpert, die sich ihres Ich noch fast gar nicht 
bewufit sind, dagegen etwas wie Eingebungen hoher Offenbarungen 
haben in der Empfindungsseele. In Europa haben wir Seelen, die kei- 
ne besonders hohe Kultur haben, die aber ihr individuelles Ich beto- 
nen, die in sich als Menschen hineinschauen und sich als Menschen 
fiihlen. Zwischen beiden Extremen stehen die griechisch-lateini- 
schen Volker drinnen, welche besonders die Aufgabe hatten, die Fa- 
higkeiten der Verstandesseele zu entwickeln. Bei ihnen war es so, 
dafi sie das Ich in der Verstandesseele entwickelten und auch gleich- 
zeitig gewisse Kulturen in der Verstandesseele aufnehmen konnten. 
So dafi also die agyptisch-chaldaische Kultur mit dem Ich wartete bis 
in eine spatere Zeit, wahrend die europaische Kultur dieses Ich friih- 
zeitig entwickelte. In der griechisch-lateinischen Kultur hielt sich das 
in gewissem Sinne die Waage, da wurde gleichzeitig mit dem Ich eine 
gewisse Kultur entwickelt. 

Damit deuten wir auf ein grofies Geheimnis unserer menschlichen 
Entwickelung, ohne dessen Kenntnis wir niemals verstehen, warum 
gerade der Christus-Impuls jenen ungehinderten Einflufi und Ein- 
gang in Europa gefunden hat. 

Warum das? Hatte der Christus in Europa erscheinen konnen, 
sich in Europa verkorpern konnen im Fleische? Nein, das hatte er 
nicht konnen. Er erschien in der griechisch-lateinischen Zeit, in wel- 
cher die Verstandesseele ausgebildet worden ist. Die war dazu geeig- 
net, gerade den Christus sozusagen entgegenzunehmen. Aber nie 
hatte der Christus in Europa erscheinen diirfen, weil dort das starke 
Ich-Gefuhl geblieben war. Dieses starke individuelle Ich-Gefuhl war 
nicht geeignet, einen einzigen Menschen zu erzeugen, der vor alien 
iibrigen den Vorzug hatte, dafi er allein das Hochste aufnehmen 
konnte. Ein verfriihtes Ich-Gefuhl, ein zu grofies Gefiihl fur die 
Gleichheit der Menschen hatte sich in den europaischen Landern 
entwickelt. Da ware es unmoglich gewesen, dafi eine Personlichkeit 
iiber die anderen so hinausgeragt hatte, wie jene Personlichkeit iiber 
ihre Zeitgenossen hinausragte, die in Palastina das Gefafi bilden soli- 



te fur den Christus. So intensiv wie in Europa durfte auf emer frii- 
hen Stufe das Ich-Gefiihl nicht erscheinen, wenn der Christus einen 
Korper finden sollte, um sich zu verkorpern. Er mufite also gerade 
dort erscheinen, wo an der Grenze der agyptisch-chaldaischen und 
der griechisch-lateinischen Kultur es moglich war, einen solchen 
Korper auszubilden, der noch nicht in sich das verfruhte Ich-Gefiihl 
trug, der aber dennoch das tiefste Verstandnis hatte fur ein Begreifen 
der geistigen Welt, das aufgenommen war in der agyptischen und 
chaldaischen Kultur. Wenn aber Europa nicht die Fahigkeit hatte, 
den Leib zu liefern fur den Christus, so hatte es doch dadurch, dafi es 
zu friih in der Morgenrote des neueren Daseins das Ich ausgebildet 
hatte, vor alien anderen Errungenschaften das voile Verstandnis da- 
fur, nachdem der Christus einmal da war, um den Menschen das voi- 
le Bewufitsein vom Ich zu bringen, dieses Ich-Bewufitsein zu begrei- 
fen, aus dem Grunde, weil die europaischen Volker das Ich-Gefiihl 
zu friih aufgenommen hatten und mit ihm gleichsam zusammenge- 
wachsen waren. 

Das miissen wir beriicksichtigen, wenn wir den ganzen Aufgang 
der neueren Kultur verstehen wollen. In Asien und Afrika finden 
wir Menschen, die viel wissen iiber die Geheimnisse der Welt, die 
viel konnen in der Herstellung gewisser Symbole. Kurz, sie haben 
ihre Empfindungsseele so kultiviert, dafi sie ein reiches Seelenleben 
haben, aber ihr Ich-Gefiihl ist schwach. In Europa finden wir Men- 
schen, die weniger Kultur haben durch das, was man durch Offen- 
barungen von aufien sich aneignen kann, dafur finden wir aber dort 
den Typus des Menschen, der sich in sich sucht, der in sich die feste 
Stiitze findet. So war in Asien vorbereitet der Boden fur die Erschei- 
nung des Christus, dort konnte es einen Leib geben, in den der Chri- 
stus einziehen konnte; und in Europa finden wir die Menschen am 
besten vorbereitet zu einem Verstandnis fur den Bringer des Ich-Be- 
wufitseins. Den europaischen Volkern brachte er das, wonach man 
gelechzt hatte. Daher entwickelt sich gerade in Europa jene wunder- 
bare Mystik, die den Christus in die eigene Seele, in das Ich aufneh- 
men wollte: die christliche Mystik. 

So wird an den verschiedenen Punkten der Erde die Menschheit 



vorbereitet durch die weise Lenkung der Welt, daft ein jedes Entwik- 
kelungsmoment zu seinem Recht kommt. Das ist eine der groften 
Errungenschaften der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, 
daft man immer mehr das Gefuhi erhalt, wie weise alles in der 
Menschheitsentwickelung und in der ganzen Welt eigentlich vor 
sich gegangen ist, wie durch Jahrtausende auf europaischem Boden 
die Seelen vorbereitet sind, daft sie so fruh wie moglich einen festen 
Punkt im eigenen Innern hatten, und daft sie, um diesen festen 
Punkt zu entwickeln, sogar zuriickgehalten wurden in den Kraften, 
die in Asien so hoch ausgebildet waren. Daher nimmt der Kultur- 
strom von Asien heriiber seinen Weg, das starke Gefuhi der Ich-Per- 
sonlichkeit geht in Europa auf. Ja, wir konnen geradezu wieder mit 
Fingern hinweisen darauf, wie das Adriatische Meer fast eine festbe- 
stimmte Grenze bildet zwischen einem sogar noch etwas schwache- 
ren Ich-Gefuhl in Griechenland einerseits, wo sich der Mensch 
noch nicht so fuhlte als einzelne individuelle Personlichkeit, son- 
dern mehr als Athener, als Spartaner, Thebaner, angehorig seiner 
Polis, und zwischen den romischen Kulturgegenden andererseits, wo 
das starke Ich-Gefiihl ganz wesentlich ausgebildet ist im Bewufttsein 
des romischen Burgers, der als Personlichkeit fest steht auf seinem 
Boden. Da sehen wir in Griechenland noch das im Menschen, was 
man bezeichnen konnte: Das Ich ist doch noch etwas zunicktre- 
tend, es wird doch noch mehr von der Auftenwelt entgegengenom- 
men, mehr auf eine Art, wo das Ich nicht dabei zu sein braucht. 

Und iiberschreiten wir das Adriatische Meer, so kommen wir 
nach Rom und sehen fest auf seinen Beinen stehen, mit dem schon 
gefiihlten Ich, den romischen Burger. Das alles hangt mit tieferen, 
mit bedeutsamen Untergriinden zusammen. Diese Dinge gehen in 
der Welt nicht vor sich, ohne daft fur die Dinge, welche sich auf dem 
physischen Plan abspielen, die entsprechenden Ereignisse in der 
geistigen Welt sich vollziehen. Wir sehen, daft in der griechischen 
Kultur noch ein starker Einschlag von zuriickgehaltenem Ich sich 
findet. Viel wird dort noch unpersonlich aufgenommen. Der Grie- 
che fiihlt sich nicht als einzelner Burger, sondern als Glied des athe- 
nischen, spartanischen oder thebanischen Organismus. Das muft ab- 



gestreift werden. Es mufi die Sehnsucht des Menschen, von aufien 
entgegenzunehmen, verschwinden, und der Mensch mufi seinen 
Einzug halten in das Innere der Seele, wenn er immer mehr ein 
abendlandischer Mensch wird. 

Was die grofien Massen bilden soil, das mufi vorgelebt werden von 
den grofien Fuhrern, den grofien Individualitaten der Menschheit. 
Da sehen wir, wenn wir etwas vor unsere Seele treten lassen, worauf 
wir wiederholt hingewiesen haben, dafi der Grieche noch ein starkes 
Bewufitsein hatte, dafi dasjenige, was ihm von aufien gegeben wird, 
ohne das Innere seiner Personlichkeit stark zu entwickeln, ein be- 
sonders Wert voiles ist. Noch einmal erinnere ich an den Ausspruch 
eines hochgebildeten Griechen, der uns tief hineinblicken lafit in das 
Sehnen des griechischen Volkes: Lieber ein Bettler sein in der Ober- 
welt als ein Konig im Reiche der Schatten! - Noch nicht ist begrif- 
fen der grofie Wert des Unsichtbaren, des iibersinnlichen Lebens. Es 
wird aus der Umgebung herausgeholt, was ohne das Ich herausge- 
holt werden kann. Und es ist nun tief ergreifend, gerade an diesem 
Punkt zu sehen, wie an der Wende der Zeiten eine grofie fixhrende 
Personlichkeit wie ein Markstein dasteht, um abzulegen die Gesin- 
nungen des Friiheren und aufzunehmen die Gesinnungen des Neue- 
ren, um gleichsam weithin schallend fiir die Geistwelt zu sagen: Jetzt 
soli eine Zeit kommen, wo nicht mehr blofi aufgenommen werden 
soli, was ohne das Ich einfliefit in die menschliche Personlichkeit, 
sondern wo das aufgenommen werden soil, was durch das Ich in die 
menschliche Personlichkeit kommt! 

Diese Tat hat sich vollzogen in einem der grofien Weisen jenes 
griechischen Altertums, das sich zum Teil abgespielt hat auf der Insel 
Sizilien, in Empedokles. In mancher Legende, die heute nur so hin- 
erzahlt wird, ruht etwas aufierordentlich Tiefes. Von Empedokles, 
dem grofien Weisen, der nicht nur ein grofier Philosoph war, son- 
dern ein Eingeweihter in die tiefen Geheimnisse der Zeit, der einer 
der grofiten Staatsmanner aller Zeiten gewesen ist und zugleich Op- 
ferpriester in Agrigent war, von ihm erzahlt die Legende, berichtet 
aber auch die okkulte Wahrheit, dafi er, nachdem er seine Aufgabe 
in Sizilien erfullt hatte, seinen Leib in den Atna versenkte, um zu 



vereinigen seine aufieren Hullen mit dem Boden Siziliens, um damit 
gleichsam zu dokumentieren: Jetzt soil kommen der feste Glaube an 
das Ich, wenn das Aufkre auch hinschwindet! - Das Opfer der au- 
fieren Hiille des Empedokles wurde vollbracht damals, als er seine 
Hullen hingab dem Atna. Dahinter liegt eine tiefe okkulte Wahr- 
heit. Fiir den, der nach Sizilien kommt, wird heute noch unter spiri- 
tuellen Ereignissen dieses stehen: dafi er in der Luft Siziliens, wenn 
er sie geistig atmet, heute noch die Nachwirkung der Tat des Empe- 
dokles findet. Empedokles' Seele hat sich weiter inkarniert; sein 
Leib hat eine besondere Bedeutung dadurch erhalten, dafi er den Ele- 
menten bewufit iibergeben worden ist, so dafi man ihn heute findet 
in der geistigen Atmosphare Siziliens. Empedokles 5 Leib bildet einen 
Bestandteil der geistigen Atmosphare Siziliens. 

Es war mir ein wichtiger Augenblick - und wir diirfen ja in unse- 
rem Zweige auch iiber solche Dinge miteinander reden - , als ich vor 
einigen Wochen unseren Palermoer Freunden iiber ihren Empe- 
dokles in der unmittelbaren Nahe jenes Ereignisses dasselbe 
sagen konnte, was ich Ihnen jetzt sagte: Wer mit Bewufitsein geistig 
betritt eure Statte hier in Sizilien, der atmet heute noch geistig das- 
jenige, was in die Luft Siziliens gekommen ist durch den Opfertod 
des Empedokles! 

So sehen wir, wie das, was wir aufierlich, raumlich mit dem Adria- 
tischen Meer andeuten konnten - die Grenze zwischen Ost und 
West -, angedeutet wird durch einen grofien Fiihrer der Mensch- 
heit, der, indem er weiter wirken sollte im Westen, dasjenige bewufit 
abstreift, wodurch man wachsen konnte driiben im Osten, und ret- 
ten will fiir die weitere Entwickelung das Bestehen dessen, was erha- 
ben ist iiber alle Elemente des aufieren physischen Planes. 

Es ist etwas Gewaltiges, in diese Unterschiede hineinzuschauen, 
denn sie zeigen, wie auf getrennten Gebieten auch Getrenntes vorbe- 
reitet worden ist, damit in der Mannigfaltigkeit auch das Grolke er- 
reicht wer den konnte. Durch die Zusammenwirkung des Mannigfal- 
tigsten mufi das Ziel der Gesamtentwickelung fiir die Menschheit er- 
reicht werden. Daraus konnen wir sehen, dafi der Christus, nach- 
dem er im Osten erschienen war, hinuberzog nach dem Westen und 



dort aufgenommen wurde von denen, die vorbereitet waren mit 
einem starken Ich-Bewufitsein, um verstehen zu konnen den Bringer 
des starken Ich-Bewufitseins. Das war das Geheimnis vom Eintritt 
des Christus in den Okzident, daft er vorbereitete Seelen fand, und 
dafi ihn diese Seelen aufnahmen. So sehen wir im Osten die Mensch- 
heit vorbereiten alles, was moglich macht, dafi ein Korper oder eine 
Leiblichkeit entstehen kann, bestehend aus physischem Leib, Ather- 
leib und astralischem Leib, in welche der Christus einziehen kann, 
der durch das Ich-Bewufksein und mit dem Ich-Bewufksein den Im- 
puls der Liebe auf die Erde bringt. Die Liebe ist das, was in ihrer see- 
lischsten, geistigsten Form mit dem Christus der Erde gebracht 
wird. Die Liebe, wie wenn sie entstehen wurde sozusagen in ihrer 
seelisch-geistigen Form im Osten, so betrachten wir sie zuerst; und 
wie wenn sie sich verbreiten wurde nach dem Westen und hier ver- 
standen wurde, so betrachten wir die Entwickelung weiter. 

Wodurch konnte gerade im Westen das Ich-Bewufitsein so wirken, 
da£ es sich verwandt fuhlte mit dem Christus? Was war mit den 
Seelen geschehen, die friihzeitig das Ich-Bewufitsein aufgenommen 
hatten? 

Die agyptisch-chaldaischen Volker warteten mit der Entwickelung 
des Ich bis zur Bewufitseinsseele, die griechisch-lateinischen Volker 
entwickelten das Ich schon in der Verstandes- oder Gemiitsseele, die 
Kultur des europaischen Nordens hat das Ich-Gefiihl schon vorzeitig 
in der Empfindungsseele entwickelt. Da war es friih in der menschli- 
chen Seele darinnen. Es hatte also zusammengewirkt die Empfin- 
dungsseele mit dem Ich-Bewufitsein hier in einer ganz anderen Weise 
als irgendwo in der Welt. In Nordeuropa haben sich zuerst in der 
Menschheitsentwickelung die Empfindungsseele und das Ich-Be- 
wufitsein durchdrungen. Was war dadurch geschehen, dafi sich bei 
den europaischen Volkern in der Empfindungsseele schon das Ich- 
Bewufitsein festgesetzt hatte, bevor Christus in die Menschheitsent- 
wickelung eingetreten war, und bevor sie aufgenommen hatten, was 
sich in Asien entwickelt hatte? 

Dadurch war mit der Empfindungsseele eine Kraft der menschli- 
chen Seele entwickelt worden, die sich nur dadurch hatte entwickeln 



konnen, dafi die Empfindungsseele, die noch ganz jungfraulich war 
und unbeeinflulk von anderen Kulturen, sich durchdrungen hatte 
mit dem Ich-Gefiihl. Und diese Seelenkraft ist das Gewissen gewor- 
den: die Durchdringung von Ich-Gefiihl mit Empfindungsseele. Da- 
her das merkwiirdig Unschuldige des Gewissens! Wie redet das Ge- 
wissen? Es spricht in dem einfachsten, naivsten Menschen wie in der 
kompliziertesten Seele. Es sagt unmittelbar: Das ist recht! Das ist 
unrecht! - Ohne eine Theorie, ohne irgendeine Lehre. Mit der Ge- 
walt eines Triebes, eines Instinktes wirkt das, was uns sagt: Das ist 
recht! Das ist unrecht! - Nirgends sonst finden Sie das, was sich so 
im Westen entwickelte, in der Art, wie wir es heute auseinanderge- 
setzt haben. Deshalb wirft es seine ersten Strahlen wie eine Morgen- 
rote voraus nach Griechenland und von dort nach Rom, und dort 
tritt es uns sogar schon sehr stark entgegen. Da finden wir bei den 
romischen Schriftstellern zuerst das Wort Gewissen: conscientia. 
Wahrend wir es bei den Griechen nur sporadisch finden, in ersten 
Andeutungen bei Euripides, finden wir es bei den Romern schon 
sehr stark hervorgehoben, schon als allgemein gebrauchliches Wort. 
Das ist der Einflu£ jener Kulturstromung, die dadurch entstanden 
ist, dafi Empfindungsseele und Ich-Gefiihl sich durchdrungen haben, 
daft das Ich-Gefiihl, das den Menschen hinauftragt vom Niederen 
zum Hoheren, schon in der Empfindungsseele wie eine Gottesstim- 
me spricht, wie sonst nur Triebe, Begierden und Leidenschaften in 
der Empfindungsseele sprechen, und dort so spricht mit dem Drang, 
das Richtige zu tun, um hinaufzudringen zu dem hoheren Ich. 

So sehen wir in der Menschheitsentwkkelung bei den europa- 
ischen Volkern zuerst das Gewissen entstehen. Von dort strahlt es 
aus und teilt sich dann den anderen Menschen der Erde mit. So ist 
durch eine weise Weltenlenkung vorbereitet worden, daft die 
Menschheit auf einem Punkte so prapariert wurde, dafi das Gewis- 
sen als ein Beitrag zur Gesamtentwickelung der Menschheit gebracht 
werden konnte. Damit haben wir im Grunde schon alles gegeben, 
was uns auch das Gewissen erklart. Wir haben jenes Undefinierbare 
des Gewissens gegeben, das Herausdringen des Gewissens aus den 
Tiefen der Seele. Das Gewissen redet so, wie ein Trieb redet, und es 



ist doch kein Trieb. Diejenigen Philosophen, die es als Trieb schil- 
dern, hauen weit daneben. Es spricht mit derselben Groftartigkeit, 
mit der die Bewufitseinsseele selber spricht, wenn sie auftritt; aber 
es spricht zugleich mit den elementaren, mit den urspriinglicheren 
Kraften. 

So sehen wir, wie auf der Erde driiben im Osten die Liebe auf- 
taucht, hier im Westen das Gewissen. Das sind zwei Dinge, die zu- 
sammengehoren: wie im Osten der Christus erscheint, wie im We- 
sten das Gewissen erwacht, um den Christus als Gewissen entgegen- 
zunehmen. In diesem gleichzeitigen Entstehen der Tatsache des 
Christus-Ereignisses und des Verstandnisses des Christus-Ereignis- 
ses, und in der Vorbereitung dieser zwei Dinge an verschiedenen 
Punkten der Erde sehen wir waken eine unendliche Weisheit, die in 
der Entwickelung vorhanden ist. Damit haben wir auf die Vergan- 
genheit des Gewissens hingedeutet. 

Wenn wir uns jetzt erinnern an das, was wir oft betont haben, dafi 
wir jetzt, nachdem das Kali Yuga abgelaufen ist, in einem Ubergange 
sind, wo sich neue Krafte zu entwickeln haben, dann werden wir es 
begreiflich finden, dafi wir heute auch entgegengehen wichtigen Fra- 
gen in bezug auf die Entwickelung unseres Gewissens. Wir haben 
das letzte Mai betont, stark und scharf betont, dafi wir entgegenge- 
hen einem neuen Christus-Ereignis, indem die Seele fahig werden 
wird, den Christus in einem gewissen atherischen Hellsehen wahr- 
zunehmen und das Ereignis von Damaskus in sich wiederzuerleben. 
Daher diirfen wir die Frage aufwerfen: Wie wird es sein mit dem Pa- 
rallelereignis, mit der Entwickelung des Gewissens in den Zeitrau- 
men, in die wir uns hineinleben? - Diese Frage werden wir uns am 
nachsten Sonntag, am 8. Mai, vorlegen und dadurch auch am besten 
unseren Gedenktag begehen, indem wir auf das Lebendige der gei- 
steswissenschaftlichen Bewegung hinweisen und darstellen, wie sich 
die menschlichen Seelenkrafte in einem Ubergang befinden. Wir 
werden sehen, dafi das Gewissen von den verschiedensten Seiten her 
beleuchtet werden kann. Ganz exoterisch soil das im offentlichen 
Vortrag am nachsten Donnerstag geschehen, aber auch selbst da 
kann schon manches vorausgesetzt werden, weil diese offentlichen 



Vortrage schon (lurch eine Reihe von Jahren gehen. Man kann so 
tief sprechen iiber das Gewissen, wie wir heute gesprochen haben, 
man kann so exoterisch sprechen wie am nachsten Donnerstag, und 
man kann noch tiefer iiber das Gewissen sprechen. Das wird noch 
einige Zeit dauern, bis wir dazu in der Lage sein werden. 



SIEBENTER VORTRAG 



Berlin, 8. Mai 1910 



Am achten Mai, dem heutigen Tage, begehen wir als Theosophische 
Gesellschaft den Weifien Lotus-Tag, den man in der aufieren Welt, 
so wie sie ihre Bezeichnungen heute hat, als den Todestag bezeichnet 
der Anregerin jener geistigen Stromung, innerhalb welcher wir ste- 
hen. Uns liegt es naher, eine andere Bezeichnung fur diese unsere 
Festlichkeit des heutigen Tages zu wahlen, jene Bezeichnung, die aus 
unseren Erkenntnissen der geistigen Welt hergenommen ist und die 
etwa heifien mufke, der Ubergang von einer Wirksamkeit innerhalb 
des physischen Planes zu einer anderen Wirksamkeit innerhalb der 
geistigen Welten. Denn uns ist es ja wohl eine nicht nur innigste 
Uberzeugung im gewohnlichen Sinne des Wortes, sondern eine im- 
mer mehr aufgehende Erkenntnis, dafi wir es zu tun haben bei dem, 
was in der Au£enwelt der Tod genannt wird, mit dem Ubergang 
von einer Arbeit, einer Wirksamkeit, welche angeregt ist durch die 
Eindriicke der aufieren physischen Welt, zu einer solchen Wirksam- 
keit, welche angeregt ist unmittelbar aus der geistigen Welt. Und in- 
dem wir uns heute erinnern an die grofie Anregerin H. P. Blavatsky 
und an diejenigen, welche als fiihrende Personlichkeiten heute auch 
schon hiniibergegangen sind in dieses geistige Reich, wollen wir ins- 
besondere versuchen, uns eine Vorstellung davon zu bilden, wie wir 
selbst unsere geistige Bewegung halten, damit sie vorstellen kann 
eine Fortsetzung jener Wirksamkeit, welche die Griinderin voll- 
bracht hat auf dem physischen Plan bis zu ihrem Abgang von dem- 
selben, eine Fortsetzung dieser Wirksamkeit auf der einen Seite, aber 
auch eine Moglichkeit dafiir, dafi diese Begriinderin aus den geistigen 
Welten heraus fortwirken kann in unserer Gegenwart und in die 
Zukunft hinein. 

An einem solchen Tage ziemt es sich wohl, dafi wir gewisserma- 
fien unterbrechen die Art und Weise, wie wir uns sonst in diesen 
Versammlungen den geisteswissenschaftlichen Betrachtungen und 
dem spirituellen Leben hingeben, und dafi wir gleichsam eine Art 



Gewissenserforschung vornehmen, eine Art Riickschau auf das, was 
uns aus der theosophischen Bewegung heraus deren Wesen und de- 
ren Pflichten vor Augen fiihren kann, was uns auf der anderen Seite 
in einer Art von Vorschau vor Augen fiihren soil, was in der Zu- 
kunft diese theosophische Bewegung sein soil, was wir zu tun, was 
wir zu lassen haben. 

Durch ganz besondere Umstande, durch gewisse geschichtliche 
Notwendigkeiten ist in der neueren Zeit das ins Leben gerufen wor- 
den, was wir als theosophische Bewegung behandeln. Sie wissen, dafi 
es sich dabei nicht wie bei manchen anderen geistigen oder sonstigen 
Bewegungen oder Vereinigungen darum handelt, daft eine oder meh- 
rere Personlichkeiten diese oder jene Ideale sich vorsetzen, und weil 
sie fur diese Ideale gerade aus den Bedingungen ihres Gemiites, ihres 
Herzens heraus begeistert sind, nun versuchen, andere Menschen 
auch dafiir zu begeistern, um Vereine, Gesellschaften zu begriinden 
und diese Ideale, fur die sie personlich entflammt sind, in Wirklich- 
keit umzusetzen. In dieser Weise diirfen wir die theosophische Be- 
wegung, wenn wir sie richtig verstehen, nicht auffassen. Wir werden 
sie nur dann richtig verstehen, wenn wir sie auffassen als geschichtli- 
che Notwendigkeit unseres gegenwartigen Lebens, als etwas, was, 
gleichgultig, wie die Menschen dariiber empfinden und fiihlen mo- 
gen, kommen rnufke, weil es sozusagen im Schofie der Zeit lag und 
geboren werden mulke. Als was kann denn diese theosophische Be- 
wegung aufgefafk werden? Aufgefafit kann sie werden als ein Herun- 
tersteigen, ein neues Heruntersteigen von geistigem Leben, von 
geistiger Weisheit und geistigen Kraften aus den ubersinnlichen Wel- 
ten in die sinnlich-physische Welt. Solches Heruntersteigen von 
geistigem Leben, geistiger Weisheit und geistigen Kraften mufke ja 
und wird in der Zukunft immer wieder geschehen miissen zur Fort- 
entwickelung der Menschheit. Es kann naturlich heute nicht die 
Aufgabe sein, auf alle die einzelnen grofien Impulse hinzuweisen, 
durch welche geistiges Leben heruntergeflossen ist aus den ubersinn- 
lichen Welten, damit sozusagen das altgewordene Seelenleben der 
Menschheit erneuert wurde. Das ist im Laufe der Zeit ofter gesche- 
hen. Nur auf einiges soil hingewiesen werden. 



In urferner Vergangenheit, nicht lange nachdem die grofie atlanti- 
sche Katastrophe hereingebrochen war, die sich in den Uberlieferun- 
gen der verschiedenen Volker als die Sintflutsage erhalten hat, da hat 
jener Impuls stattgefunden, den wir bezeichnen konnen als das Ein- 
fliefien geistigen Lebens in die Menschheitsentwickelung durch die 
alten heiligen Rishis. Dann haben wir jenen anderen Strom geistigen 
Lebens, der herunterfliefit in die Menschheitsbewegung durch den 
grofien Zarathustra oder Zoroaster. Dann finden wir einen andern 
solchen Strom geistigen Lebens in dem, was dem alt-israelitischen 
Volke in der Moses-Offenbarung zugekommen ist. Und endlich ha- 
ben wir den grofiten Impuls, das gewaltigste Hineinfliefien iibersinn- 
lichen Lebens in die sinnliche Welt durch die Erscheinung des Chri- 
stus Jesus auf der Erde. Der gewaltigste Impuls ist dies gegeniiber al- 
ler Vergangenheit und, wie wir auch hervorgehoben haben, gegen- 
iiber aller Zukunft der Erdenentwickelung. Aber ebenso ist betont 
worden, dafi immer neue Impulse kommen miissen, dafi neues geisti- 
ges Leben und eine neue Art, das alte geistige Leben aufzufassen, ein- 
stromen mufi in die Menschheitsentwickelung. Denn sonst wiirde 
der Baum der Menschheitsentwickelung, der griinen mufi, wenn die 
Menschheit ihr Ziel der Entwickelung erreichen soil, diirr werden 
und absterben. Die gewaltige Christus-Lebenswelle, die eingeflossen 
ist in die menschliche Entwickelung, mufi immer besser und besser 
begriffen werden durch neue geistige Impulse, die in unser Erden- 
leben einfliefien. 

Als nun unser Zeitalter heranriickte, unser 19. Jahrhundert, da 
war fur die Menschheitsentwickelung wieder eine Zeit gekommen, 
welche einen neuen Einschlag, einen neuen Lebensimpuls forderte. 
Wieder mufken herunterfliefien aus den ubersinnlichen Welten in 
unsere sinnliche Welt hinein neue Anregungen, neue Offenbarun- 
gen. Das war eine Notwendigkeit, die man hatte empfinden sollen 
auf der Erde selber, die man aber namentlich empfand in jenen Re- 
gionen, von denen die Lenkung alien Erdenlebens ausgeht in den 
geistigen Regionen. Es ware nur kurzsichtige menschliche Betrach- 
tung, wenn man sich etwa sagen wollte: Ach, wozu immer neues 
Einfliefien von ganz neuen Wahrheitsarten? Wozu immer neue Er- 



kenntnisse und neue Lebensimpulse? Was im Christentum zum Bei- 
spiel gegeben ist, das ist ja gegeben, und das konnte einfach in der 
gleichen Weise fortleben! 

Diese Betrachtungsweise ware vor einem hoheren Gesichtspunkt 
eine eminent egoistische. Das ist sie wirklich! Und daft sich solche 
egoistische Betrachtungsweise gerade bei denjenigen Menschen heu- 
te so haufig geltend macht, welche glauben, recht fromm und reli- 
gios zu sein, das ist um so mehr ein Beweis dafiir, dafi es eine Auffri- 
schung des geistigen Lebens bedarf. Wie oft horen wir heute die Re- 
densart: Wozu die neuen geistigen Stromungen? Wir haben die alten 
Uberlieferungen, was uns durch die geschichtlichen Zeiten herauf 
erhalten worden ist, lassen wir uns das nicht verderben durch dasje- 
nige, was die wissen wollen, die nur immer vorgeben, alles besser zu 
wissen! - Das ist ein egoistischer Ausdruck der menschlichen Seele. 
Nur wissen die nicht, welche ihn tun, daft er ein so eminent egoisti- 
scher ist. Denn die ihn tun, wollen gleichsam nur fur die Bedurfnisse 
der eigenen Seele sorgen. Sie fuhlen in sich selber: Wir sind ja zufrie- 
den mit dem, was wir haben! - Und nun stellen sie das Dogma, das 
furchtbare Gewissensdogma auf: Wenn wir zufrieden sind in unserer 
Art, dann miissen die, welche von uns lernen sollen, die unsere 
Nachkommen sind, in gleicher Art zufrieden sein wie wir. Alles 
mufi nach unserem Herzen, nach unserem Wissen gehen! - das ist 
eine Redensart, die man in der aufteren Welt sehr, sehr oft hort. Und 
es ist nicht bloft Engigkeit der Seele, es ist etwas, was verkniipft ist 
mit dem, was eben gekennzeichnet worden ist als ein egoistischer 
Zug dieser Menschenseele. Und im religiosen Leben konnen unter 
der Maske der Frommigkeit die Seelen vielleicht gerade am aller- 
egoistischsten sein. 

Ein Blick in unsere Umwelt, wenn wir ihn mit Verstandnis tun 
wollen, konnte gerade jene Menschen, denen es ernst ist mit der 
geistigen Entwickelung der Menschheit, das eine lehren: daft die 
Menschenseele sich entwickelt, und daft immer mehr und mehr von 
jener Art und Weise abbrockelt, wie man durch Jahrhunderte hin- 
durch den Blick hingelenkt hat gerade auf den groftten Impuls der 
Menschheitsentwickelung, auf den Christus-Impuls. Ich erwahne 



sonst nicht gern zeitgenossische Dinge, weil das, was heute im aufie- 
ren geistigen Leben geschieht, wirklich zumeist zu unbedeutend ist, 
als dafi es dem ernsten Betrachter tiefere Seiten ansprechen konnte. 
Aber dem Zeitbetrachter sollte es dennoch eine Gewissensfrage sein, 
was vielfach heute im geistigen Leben geschieht, Man konnte in den 
letzten Wochen zum Beispiel in Berlin fast vor keiner Anschlagsaule 
vorbeigehen, ohne darauf die Ankiindigung eines Vortrages oder 
einer Versammlung zu finden mit dem Thema: Hat Jesus gelebt? - 
Sie alle wissen vielleicht, dafi die Anregung zu dieser Diskussion, die 
in den weitesten Kreisen gepflogen worden ist, zum Teil mit recht 
radikalen Waffen, gegeben hat die Anschauung eines deutschen 
Philosophie-Professors - eines Schulers des Verfassers der «Philoso- 
phie des Unbewufiten», Eduard von Hartmann - des Professors Dr. 
Arthur Drews, und besonders dessen Buch «Die Christus-Mythe». 
Was in diesem Buche zu finden ist, das ist dann weiter bekannt- 
geworden durch einen Vortrag des Professors Drews, der hier in 
Berlin gehalten worden ist unter dem Titel «Hat Jesus gelebt?» 

Nun kann es heute naturlich nicht meine Aufgabe sein, auf die 
Einzelheiten der Drewsschen Betrachtungen einzugehen. Ich will 
nur einige Hauptgedanken vor Ihre Seele hinstellen. Der Verfasser 
der «Christus-Mythe» ) also ein moderner Philosoph, der in An- 
spruch nimmt, die Wissenschaft und das Denken unserer Zeit in sich 
zu tragen, nimmt die einzelnen Urkunden durch, aus denen man ge- 
schichtlich feststellen will, dafi eine gewisse Personlichkeit, die den 
Namen Jesus von Nazareth getragen hat, im Beginne unserer christ- 
lichen Zeitrechnung gelebt hat. Und er versucht aus dem, was die 
Kritik, was die Wissenschaft ihrerseits festgestellt hat, etwas zusam- 
menzustellen, was sich ihm dann etwa so ergibt, dafi er sagt: Sind 
etwa die einzelnen Evangelien historische Urkunden, aus denen man 
beweisen kann, dafi Jesus wirklich gelebt hat? - Und er nimmt nun 
alles, was moderne Theologie von dieser oder jener Seite geboren 
hat, und versucht zu zeigen, dafi keines der Evangelien eine histori- 
sche Urkunde sein konne, und dafi man nicht beweisen konne aus 
den Evangelien, dafi Jesus gelebt hat. Und da versucht er zu zeigen, 
dafi auch alle anderen Nachrichten rein geschichtlicher Art, die die 



Menschen haben, unmafigeblich sind, so da$ aus ihnen nicht 
geschlossen werden konne auf einen historischen Jesus. 

Nun weift jeder, der die Dinge kennt, daft, rein aufterlich betrach- 
tet, diese Betrachtungsweise des Professors Drews ja viel fur sich hat 
und gerade wie eine Art Resultat moderner theologischer Kritik auf- 
tritt. Auf die Einzelheiten will ich mich dabei nicht einlassen. Denn 
gerade darauf kommt es an, dafi in unserer Zeit die Behauptung auf- 
gestellt werden kann von jemandem, der die Wissenschaftlichkeit 
von der philosophischen Seite in sich zu tragen meint, dafi er sagt: Es 
gibt keine historischen Dokumente, aus denen man nachweisen 
kann, dafi Jesus gelebt hat; die historischen Dokumente, aus denen 
man das beweisen will, sind alle nicht mafigebend. - Woran sich 
nun Drews halt und alle, die mit ihm gehen, das ist das, was wir von 
dem Apostel Paulus haben. Es gibt sogar schon neuere Menschen, 
die auch die Echtheit der gesamten Paulus-Briefe bezweifeln, aber da 
der Verfasser der «Christus-Mythe» nicht so weit geht, brauchen wir 
uns auch nicht dabei aufzuhalten, Uber Paulus sagt Drews nun fol- 
gendes: Paulus ging nicht aus von einer etwaigen personlichen Be- 
kanntschaft mit dem Jesus von Nazareth, sondern von dem, was er 
als Offenbarung gehabt hat in dem Ereignis von Damaskus. - Wir 
wissen, dafi das absolut wahr ist. Nun kommt aber Drews zu folgen- 
der Anschauung. Was bildete sich nun Paulus fur einen Christus-Be- 
griff? Er bildete sich den Begriff eines rein geistigen Christus, der in 
jeder Menschenseele sozusagen wohnen kann und sich in jeder 
Menschenseele nach und nach verwirklichen kann. Aber nirgends 
gabe es fiir Paulus eine Notwendigkeit, diesen Christus, den er als 
ein rein geistiges Wesen ansieht, gegenwartig zu haben in dem, was 
ein doch nicht historisch nachweisbarer Jesus gewesen ware. Daher 
konnte man sagen: Ob ein historischer Jesus gelebt hat oder nicht, 
das weifi man nicht; das Christus-Bild des Paulus ist ein rein geisti- 
ges, eine reine Idee, die nur etwas wiedergibt, was in jeder Menschen- 
seele als ein Vervollkommnungsimpuls, als eine Art Gott im Men- 
schen leben kann. - Nun weist der Verfasser der «Christus-Mythe» 
weiter darauf hin, dafi gewisse Vorstellungen, ahnlich wie die des 
Christus Jesus der Christen auch schon vorher vorhanden waren als 



eine Art vorchristlicher Jesus, und bei verschiedenen orientalischen 
Volkern weist er den Messias-Begriff nach. Dadurch sieht sich 
Drews doch genotigt, sich zu fragen: Wodurch unterscheidet sich 
denn eigentlich die Idee des Christus - von der sich auch in seinem 
Sinne nicht leugnen lafit, daft Paulus sie gehabt hat - , wodurch un- 
terscheidet sich dieses Bild des Christus in Kopf und Herz des Paulus 
von dem, was man als Messias-Begriff schon vorher gehabt hat? - 
Und da sagt Drews: Die Menschen vor Paulus haben ein Christus- 
Bild eines Gottes, ein Messias-Bild eines Gottes gehabt, der nicht 
wahrhaft Mensch geworden ist, der nicht bis zur individuellen 
Menschlichkeit hinuntergestiegen ist. Sie haben sozusagen in ihren 
verschiedenen Festen, Mysterien und so weiter wie einen symboli- 
schen Vorgang gefeiert: Leiden, Tod und Auferstehung; aber das ha- 
ben sie nicht gehabt, daft ein einzelner Mensch auf der physischen 
Erde wirklich Leiden, Tod und Auferstehung durchgemacht hatte. 
Das war also gleichsam eine allgemeine Idee. Und nun fragt sich der 
Verfasser der «Christus-Mythe»: Worinnen besteht nun das Neue 
bei Paulus? Wie hat Paulus selber die Idee des Christus fortgebildet? 

Da sagt nun Drews selber: Das ist der Fortschritt, den Paulus ge- 
macht hat gegeniiber dem Friiheren, daft er sich nicht bloft vorstellte 
einen allgemeinen, in den hoheren Regionen schwebenden Gott, 
sondern einen Gott, der individueller Mensch geworden ist. - Also 
ich bitte noch einmal darauf zu achten: Im Sinne des Verfassers der 
«Christus-Mythe» stellt sich Paulus einen Christus vor, der wirklich 
individueller Mensch geworden ist. Aber jetzt kommt das hochst 
eigentiimliche: Paulus sollte jetzt bei der Idee bloft stehengeblieben 
sein, das heiftt, Paulus sollte die Idee eines Christus, der wirklich 
Mensch geworden ist, gefafit haben, aber dieser Christus als Mensch 
sollte fur Paulus nicht existiert haben! Paulus sollte sich gesagt 
haben: Die hochste Idee ist die, daft ein Gott, ein Christus, nicht nur 
in den hoheren Regionen schwebt, sondern daft er heruntergestiegen 
ist auf die Erde und Mensch geworden ist; er habe aber jetzt nicht im 
Sinne gehabt, daft dieser Christus wirklich auf der Erde in einem 
Menschen gelebt habe - das heifit: Der Verfasser der «Christus-My- 
the» schiebt dem Paulus einen Christus-Begriff zu, der in sich selber 



ein Hohn ist auf jedes gesunde Denken. Paulus sollte gesagt haben: 
Der Christus mufi wirklich ein individueller Mensch gewesen sein, 
aber ich leugne, trotzdem ich ihn predige, daft dieser Christus histo- 
risch gelebt hat! 

Das ist der Kernpunkt der Sache, worum es sich handelt, und der 
sich uns darstellt nicht als etwas, wozu man viel theologisch-kriti- 
sche Gelehrsamkeit brauchte, um ihn zu widerlegen, sondern da 
kann der Verfasser der «Christus-Mythe» durchaus als Philosoph an- 
gefaftt werden. Denn dieser Christus-Begriff ist auch nur philoso- 
phisch gefaftt, unmoglich. Der paulinische Christus-Begriff, wenn 
man ihn nur im Sinne von Drews nimmt, kann gar nicht bestehen, 
ohne daft der historische Jesus angenommen wird. So fordert also 
dieses Buch von Drews selber die Existenz eines historischen Jesus. 
Es kann also heute in den weitesten Kreisen ein Buch als ernste wis- 
senschaftliche Arbeit angesehen werden, das in seinem Mittelpunkt 
einen solchen Widerspruch hat, daft es aller inneren Logik Hohn 
spricht! Es ist moglich, daft heute das menschliche Denken solche 
krummen Wege nimmt! Woher kommt das? Wer sich klar werden 
wollte iiber die Entwickelung der Menschheit, der sollte sich diese 
Frage beantworten: Woher kommt das? 

Das kommt daher, daft iiber dasjenige, was die Menschen in die- 
sem oder jenem Zeitalter glauben oder denken, zuletzt nicht ihre Lo- 
gik entscheidet, sondern ihre Empfindungen und Gefuhle, das heiftt, 
was sie glauben und denken mochten. Und es liegt im tiefsten Zug 
gerade derjenigen, welche den Christus-Begriff fur das kommende 
Zeitalter vorbereiten, daft sie aus ihrem Herzen heraus alles aus- 
schlieften wollen, was in aufieren Urkunden enthalten ist, dabei aber 
auch wieder den Drang haben, alles durch auftere Dokumente be- 
weisen zu wollen. Diese Urkunden aber verlieren, wenn man sie 
rein materiell betrachtet, nach einer bestimmten Zeit ihren Wert. 
Die Zeit wird kommen und gerade so, wie sie kam fur Homer und 
heute schon da ist fur Shakespeare, so wird sie fur Goethe kommen, 
daft man wird nachzuweisen versuchen, daft ein historischer Goethe 
niemals existiert hat. Historische Urkunden, rein materiell gefaftt, 
miissen ihren Wert mit der Zeit verlieren. Was ist also notwendig, da 



wir heute bereits in einem Zeitalter stehen, welches in seinen besten 
Vertretern so denken kann, dafi aus einem Drange des Herzens her- 
aus das Ziel entsteht, den historischen Christus wegzuleugnen? Was 
ist notwendig als ein neuer Einschlag des geistigen Lebens? - Die 
Moglichkeit ist notwendig, auf geistige Art den historischen Jesus zu 
begreifen. 

Was ist ein anderer Ausdruck fur diese Tatsache? 

Dafi Paulus von dem Ereignis von Damaskus ausgegangen ist, wis- 
sen wir alle. Und wir wissen auch, dafi das fur ihn die grofie Offen- 
barung war, wahrend alles, was er horen konnte in Jerusalem, als un- 
mittelbare Nachrichten auf dem physischen Plan, nicht geeignet 
war, aus einem Saulus einen Paulus zu machen. Was ihn iiberzeugte, 
das war die Offenbarung von Damaskus aus den geistigen Welten 
heraus. Erst dadurch ist das Christentum wirklich entstanden und 
daraus hat Paulus die Kraft geschopft, den Christus zu verkiindigen. 
Aber hat er daraus die blofie abstrakte Idee gewonnen, die in sich wi- 
derspruchsvoll ist? Nein! Sondern aus dem, was er in den geistigen 
Welten gesehen hat, hatte er die Uberzeugung gewonnen, dafi der 
Christus auf der Erde gelebt, gelitten hat, gestorben und auferstan- 
den ist. «Ware Christus nicht auferstanden, so ware meine Lehre 
nichtig!» das hat Paulus mit Recht gesprochen. Er hat aus den geisti- 
gen Welten heraus nicht blofi die Idee des Christus bekommen, son- 
dern die Wirklichkeit von dem Christus, der auf Golgatha gestorben 
ist. Fur ihn war damit der Beweis geliefert fiir den historischen Jesus. 

Riickt nun die Zeit heran, wo durch den Materialismus des Zeital- 
ter s die historischen Urkunden ihren Wert verlieren und jeder mit 
leichter Miihe zeigen kann, dafi sie fiir die Kritik so briichig werden, 
dafi man auf aufiere historische Art nichts beweisen kann, was ist 
dann notwendig? Dann miissen die Menschen erkennen lernen, dafi 
man den Christus als historischen Jesus auch ohne historische Ur- 
kunden erkennen kann dadurch, dafi sich das Ereignis von Damas- 
kus fur jeden Menschen durch Schulung, oder sogar in der nachsten 
Zukunft fiir die ganze Menschheit, erneuern kann, so dafi es dadurch 
moglich ist, eine Uberzeugung von dem historischen Jesus zu gewin- 
nen. Das ist die neue Art, die in die Welt kommen mufi, diesen Weg 



zu finden zu dem historischen Jesus. Denn ob Tatsachen, die gesche- 
hen sind, richtig oder unrichtig sind, darauf kommt es nicht an, son- 
dern darauf, dafi sie da sind. Nicht darauf kommt es an, dafi ein Buch 
wie «Die Christus-Mythe» diese oder jene Irrtiimer enthalt, sondern, 
dafi es geschrieben werden konnte. Das zeigt, dafi wir ganz andere 
Methoden notwendig haben, damit der Christus der Menschheit er- 
halten bleibt und wiedergefunden werden kann. Wer an die Mensch- 
heit denkt und an ihre Bedurfnisse und an die Art, wie die 
Menschenseele sich aufiert, der wird sich nicht auf den Standpunkt 
stellen: Was gehen mich die Menschen alle an, die anders denken? 
Ich habe meine Uberzeugung, fur mich geniigt das! - Die meisten 
ahnen gar nicht, was fur ein furchtbarer Egoismus gerade darinnen 
liegt. 

Es war nicht irgendeine aufiere Idee, ein aufieres Ideal oder eine 
personliche Liebhaberei, dafi eine Bewegung entstand, durch welche 
die Menschen lernen sollten, dafi es moglich ist, einen Weg in die 
geistige Welt hinauf zu finden, und dafi unter dem, was dort zu fin- 
den ist, auch der Christus gefunden werden kann, sondern aus einer 
Notwendigkeit heraus ist diese Bewegung entstanden. Diese Not- 
wendigkeit stellte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein, und ihr 
entsprechend sollten die Moglichkeiten herunterfliefien aus den 
geistigen Welten in die physische Welt, durch welche die Menschen 
fahig werden, die geistige Wahrheit auf eine neue Art und Weise zu 
gewinnen, weil die alte abgestorben war. Und wie haben wir im 
Laufe dieses Winters gesehen, wie fruchtbar sich dieser Weg erweist! 

Wir haben es immer wieder betont: Das erste, was wir zu tun ha- 
ben innerhalb unserer Bewegung, ist nicht, zu fufien auf irgendeiner 
Urkunde oder einem aufieren Dokument, sondern zuerst zu fragen: 
Was gibt uns das hellseherische Bewufitsein, wenn wir hinaufsteigen 
in die geistigen Welten? Was sagt das unabhangige geistige Bewufk- 
sein, wenn durch irgendeine Katastrophe alle historischen Hinweise 
auf den historischen Jesus, auf die Evangelien und auch auf die Pau- 
lus-Briefe verlorengegangen waren? Was sagt der Weg, der jeden Tag 
und jede Stunde angetreten werden kann, von den geistigen Welten? 
Er sagt: Du findest in den geistigen Welten den Christus, und wenn 



auch nichts historisch davon weifit, dafi der Christus auf der Erde 
da war in der Zeit, wo unsere Zeitrechnung beginnt! Das ist die Tat- 
sache, die durch eine Erneuerung des Ereignisses von Damaskus im- 
mer wieder festgestellt werden kann: Es gibt einen urspriinglichen 
Beweis fur die historische Personlichkeit des Jesus von Nazareth! 
Und wie nicht blofi an der Schultafel fur einen Schiller gesagt wird: 
Du mufit glauben, dafi die drei Winkel eines Dreiecks 180 Grad sind, 
weil irgendwann im Altertum ein Mensch das einmal festgestellt 
hat! — sondern wie wir ihm heute beweisen konnen, dafi die drei 
Winkel eines Dreiecks 180 Grad betragen, so zeigen wir heute aus 
dem geistigen Bewufitsein heraus, dafi der Christus nicht nur 
immer da war, sondern dafi der historische Jesus gefunden werden 
kann in den geistigen Welten, dafi er eine Realitat ist und gerade 
eine Realitat fur die Zeit, die uns iiberliefert worden ist. 

Dann gingen wir weiter und zeigten, wie dasjenige, was wir durch 
geistige Erkenntnis ohne die Evangelien festgestellt haben, sich wie- 
derfindet in den Evangelien. Und jetzt empfinden wir fur die Evan- 
gelien jene hohe Achtung und Schatzung, die durch nichts iiberbo- 
ten werden kann, weil wir in ihnen wiederfinden, was wir unabhan- 
gig von den Evangelien in den geistigen Welten gefunden haben, und 
wir wissen jetzt: Also miissen sie aus denselben Quellen iibersinn- 
licher Erleuchtung hervorgegangen sein, aus denen wir heute 
schopfen, miissen Urkunden aus den geistigen Welten sein. 

Dafi eine solche Betrachtung iiberhaupt moglich ist, dafi also 
geistiges Leben einriickt in menschliche Wissenschaftlichkeit, das ist 
der Sinn dessen, was wir theosophische Bewegung nennen. Und da- 
mit das, was geschehen mufite, geschehen konnte, dazu mufite die 
Anregung gegeben werden durch die Theosophische Gesellschaft. 
Das ist die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist die, dafi diese An- 
regung gerade hineinfallen mufite in eine Zeit, die dafiir am wenig- 
sten reif war. Das zeigt sich gerade daran, dafi heute, nachdem die 
theosophische Bewegung bereits dreifiig Jahre in der Welt ist, noch 
immer das Lied fortdauert von dem «unhistorischen Jesus» und so 
weiter. Wieviel weifi man denn heute aufierhalb unserer Bewegung, 
dafi es moglich ist, den historischen Jesus ganz anders zu finden, als 



durch die aufteren Urkunden? Man setzt fort, was man im 19. Jahr- 
hundert getan hat: die Autoritat der religiosen Urkunden zu unter- 
graben. So war die Notwendigkeit, daft diese neue Moglichkeit der 
Menschheit gegeben werden muftte, die denkbar groftte, und auf der 
anderen Seite waren die Vorbereitungen der Menschen, um diese 
Offenbarungen entgegenzunehmen, die denkbar geringsten. Oder 
glauben Sie vielleicht, daft die Menschen, daft die Philosophen von 
heute dafiir besonders reif gewesen waren? Wie weit die Philoso- 
phen am Anfange des 20. Jahrhunderts sind, sehen Sie an der Idee, 
welche sie iiber den Christus des Paulus fassen. Wer das wissen- 
schaftliche Leben kennt, der weift, daft dieses wissenschaftliche 
Leben zwar eine hohe und letzte Konsequenz dessen ist, was sich 
seit Jahrhunderten als Materialismus vorbereitet hat, daft es zwar 
behauptet, iiber den Materialismus hinauszuwollen, daft aber dasje- 
nige, was sich als Denkweise im Materialismus zeigt, nichts wei- 
ter ist als etwas Absterbendes. Wissenschaft, wie sie heute exi- 
stiert, ist zwar eine reife Frucht, aber eine solche Frucht, die das 
Schicksal jeder reifen Frucht hat: daft sie anfangt abzusterben. An 
dieser Wissenschaft kann niemand finden, der sie versteht, daft sie 
einen neuen Trieb hervorbringen konnte zur Erneuerung ihrer 
Denkungs- und Beweisart. 

Wenn wir das bedenken, dann werden wir jetzt, ganz abgesehen 
von allem iibrigen, begreifen das Gewicht der Anregung, das gekom- 
men ist von H. P. Blavatsky, ganz gleichgiiltig, wie wir zu denken 
haben uber die Einzelheiten ihres Lebens und ihrer Fahigkeiten. Sie 
war das Instrument, um die Anregung zu geben, und sie erwies sich 
immerhin als ein geeignetes Instrument dafiir. Und wir sind als Mit- 
glieder der theosophischen Bewegung, wenn wir an einem solchen 
Tage uns mit einer solchen Festlichkeit befassen, in einer ganz be- 
sonderen Lage. Wir feiern ein ganz personliches Fest, das auf ein Per- 
sonliches hinweist. Nun ist der Autoritatsglaube schon in der aufte- 
ren Welt etwas sehr Gefahrliches; er ist aber deshalb dort nicht so ge- 
fahrlich, weil Eifersucht, Neid und so weiter eine so grofte Rolle 
spielen, daft, selbst wenn Verehrung von einzelnen Personlichkeiten 
sich aufterlich geltend macht in ziemlich starkem Weihrauchstreuen, 



doch Egoismus und Neid den Leuten im Nacken sitzen. Aber in der 
theosophischen Bewegung ist die Gefahr des Schadens alles Person- 
lichkeitskultus und alles Autoritatsglaubens eine aufterordentlich 
grofte. Daher sind wir in einer ganz besonderen Lage, wenn wir ein 
Fest feiern, das einer Personlichkeit geweiht ist. Und wir sind nicht 
nur aus den Gewohnheiten der Zeit heraus, sondern aus der Sache 
heraus in einer besonderen Schwierigkeit, weil die Offenbarungen 
aus den hoheren Welten immer den Umweg iiber die Personlichkeit 
nehmen miissen. Personlichkeiten miissen die Trager sein fur die Of- 
fenbarungen, und dennoch sollen wir uns hiiten, die Personlichkei- 
ten mit den Offenbarungen zu vermischen. Wir miissen die Offen- 
barungen empfangen durch Vermittelungen der Personlichkeiten. 
Wie nahe liegt die Frage, die immer wieder auftritt: Ist die Person- 
lichkeit glaubhaft? Was hat sie alles getan an diesem oder jenem 
Tage, was mit unseren Begriffen gar nicht stimmt! Kann man also 
glauben an diese Sache? 

Das entspricht einem gewissen Hang unserer Zeit, den man cha- 
rakterisieren konnte als einen gewissen Mangel in der Hingabe an 
die Wahrheit. Wie oft kann man es heute erleben, daiS sich die Leute 
einverstanden erklaren mit dem Wirken einer Personlichkeit viel- 
leicht von Jahrzehnten: das gefallt ihnen ganz gut, da sind sie zu be- 
quem, um irgend etwas zu priifen. Wenn sich dann aber vielleicht 
nach Jahrzehnten herausstellt, dafi das Privatleben dieser Personlich- 
keit dieses oder jenes aufweist, wo man vielleicht einhaken kann, 
dann fallt diese Personlichkeit dahin. Ob das nun berechtigt ist oder 
nicht, darauf kommt es gar nicht an, sondern darauf, dafi man ein 
Gefiihl dafiir bekommen soil, dafi die Personlichkeit zwar der Weg 
ist, durch welchen geistiges Leben zu uns kommt, dafi wir aber die 
Verpflichtung haben, selbst zu priifen, und zwar an der Wahrheit 
die Personlichkeit zu priifen, und nicht die Wahrheit an der Person- 
lichkeit! Gerade den Personlichkeiten gegeniiber in unserer theoso- 
phischen Bewegung miissen wir uns immer so verhalten. Und wir 
verehren sie im Grunde genommen am besten, wenn wir sie nicht 
mit Autoritatsglauben behangen, wie man das so gern tun mdchte, 
denn wir wissen, dafi die Wirksamkeit einer verstorbenen Person- 



lichkeit nach dem Tode nur verlegt ist in die geistige Welt. Es ist be- 
rechtigt zu sagen: Die Wirksamkeit von H. P. Blavatsky dauert fort, 
und wir konnen innerhalb dessen, wozu sie die Anregung gegeben 
hat, diese Wirksamkeit entweder fordern oder beeintrachtigen. Wir 
beeintrachtigen diese Wirksamkeit am allermeisten dann, wenn wir 
der Blavatsky blind glauben, wenn wir schworen auf das, was sie ge- 
dacht hat, als sie auf dem physischen Plan wandelte, wenn wir glau- 
ben wollten, wie sie vielleicht gerade geglaubt hat, und ihr mit einer 
blinden Autoritat entgegenkommen. Und wir fordern und verehren 
sie am allermeisten, wenn wir uns bewufit sind: Sie hat die Anregung 
gegeben zu einer tiefsten, in der Notwendigkeit der Menschheitsent- 
wickelung begriindeten Bewegung. Wir schreiben ihr dieses Ver- 
dienst zu und sehen ein, dafi diese Bewegung kommen mufke. Aber 
es sind Jahre seitdem verflossen, und wir wollen uns dieser Anre- 
gung wurdig erweisen, indem wir sagen: Was angeregt worden ist, 
das mufi weitergebildet werden. - Wir sehen ein: Durch diesen 
Kopf mufke die Anregung gehen. Wir stecken unsere Nase nicht in 
die Privatverhaltnisse von H. P. Blavatsky, insbesondere nicht am 
heutigen Tage. Wir wissen, was die Anregung bedeutet, aber wir 
wissen auch, dafi die Anregung dasjenige, was geschehen soil, nur in 
der unvollkommensten Weise darstellen kann. Und wenn wir das 
betrachten, was im letzten Winter vor unsere Seek getreten ist, so 
miissen wir sagen: Was H. P. Blavatsky angeregt hat, ist zwar etwas 
tief Einschneidendes; aber was hat alles Frau Blavatsky durch ihre er- 
ste Tat nicht tun konnen? - Was jetzt erst in dieser Stunde bewiesen 
worden ist: Die Notwendigkeit der theosophischen Bewegung fiir 
das Christus-Erlebnis, das ist etwas, was der Blavatsky ganz ver- 
schlossen war. Ihr oblag es, hinzuweisen auf den Wahrheitskern in 
den Religionen der arischen Volker; vollstandig verschlossen war 
es ihr, die alt- und neutestamentlichen Offenbarungen zu verste- 
hen. Wir verehren das, was die Personlichkeit positiv geleistet hat, 
und blicken nicht auf das, was sie nicht konnte und was ihr ver- 
schlossen war und was wir eben hinzufugen miissen. Wer sich durch 
H. P. Blavatsky anregen lafk und weitergehen will, als sie selbst 
gegangen ist, der wird sich sagen: Wenn die Anregung, die H. P. 



Blavatsky gegeben hat, in der theosophischen Bewegung weiter- 
gefiihrt wird, dann wird man dazu kommen, das Christus-Ereignis 
zu begreifen. 

Das aber war gerade der Mangel der ersten theosophischen Bewe- 
gung, dafi das alttestamentliche und neutestamentliche religiose und 
geistige Leben nicht begriffen werden konnte. Daher ist im Grunde 
alles schief, was in dieser ersten Anregung dariiber enthalten ist. 
Und die theosophische Bewegung hat die Aufgabe, das wieder gut zu 
machen und dasjenige, was in den ersten Anregungen uberhaupt 
nicht enthalten war, hinzuzufiigen. Wenn wir diese Tatsache in uns 
heute fiihlen, ist sie zugleich eine Anforderung an unser theosophi- 
sches Gewissen. 

So sehen wir gerade in H. P. Blavatsky die Bringerin einer Art von 
Morgenrote eines neuen Lichtes. Aber was wiirde dieses Licht niit- 
zen, wenn es nicht das Allerwichtigste, was die Menschheit gehabt 
hat, beleuchten wollte? Eine Theosophie, welche nicht die Mittel 
hat, das Christentum zu begreifen, ist fiir die gegenwartige Kultur 
absolut wertlos. Wenn sie aber doch das Instrument ist, urn das 
Christentum zu begreifen, dann haben wir das Instrument in der 
richtigen Weise zu benutzen. Was machen wir denn, wenn wir dies 
nicht tun, was eben charakterisiert worden ist, wenn wir nicht die 
Anregung von H. P. Blavatsky benutzen, um das Christentum zu 
begreifen? Dann hemmen wir die Wirksamkeit des Geistes der Bla- 
vatsky in unserer Zeit! Alles ist doch in Entwickelung, also auch der 
Geist der Blavatsky. Und dieser Geist wirkt heute in der geistigen 
Welt, dafi die theosophische Bewegung vorschreitet. Wenn wir uns 
aber vor H. P. Blavatsky hinstellen mit den Buchern, die sie ge- 
schrieben hat, und sagen: Mit deinen eigenen Werken richten wir dir 
einen Hiigel auf! Du mufit stehenbleiben bei dem, was du getan hast 
im physischen Leben! — wer ist es denn dann, der den Geist der Bla- 
vatsky zu einem erdgebundenen macht, der ihn dazu verurteilt, dafi 
er nicht hiniibergehen kann iiber das, was er auf der Erde gestiftet 
hat? Wir selber waren das! Dadurch aber ehren und anerkennen wir 
H. P. Blavatsky, wenn wir iiber sie hinausgehen, wie sie iiber das 
hinausgegangen ist, was vor ihr war, so lange uns die Gnade der 



Weltenentwickelung geistige Offenbarungen aus der geistigen Welt 
geben kann. 

Das wollen wir heme als eine Gewissensfrage vor unsere Seelen 
hintreten lassen, und das ist schlieftlich am allermeisten auch im Sin- 
ne desjenigen Zeitgenossen, der jetzt auch schon in die geistige Welt 
eingegangen ist, H. S. Olcotts, des ersten Prasidenten der Theosophi- 
schen Gesellschaft. Das wollen wir uns heute ganz besonders in die 
Seele schreiben! Denn gerade durch die Nichterkenntnis des lebendi- 
gen theosophischen Lebens sind auch alle Schattenseiten der theo 
sophischen Bewegung entstanden: Wiirde die theosophische Bewe- 
gung ihre ursprunglichen grofien Impulse mit heiligem Gewissen 
ungeschwacht fortfuhren, so wurde sie durch ihre Kraft alles leicht 
aus dem Felde schlagen konnen, was an verderblichen Einschlagen 
im Laufe der Zeit bereits aufgetreten ist und was ganz gewift noch 
auftreten wird. Das aber mussen wir auch ernstlich tun: die Impulse 
lebendig fortbilden. Heute aber sehen wir an vielen Orten, wo 
Theosophen zu wirken meinen, daft sie sich ganz besonders behag- 
lich fiihlen, wenn sie sagen: Wir tun jetzt etwas, was uns die auftere 
Wissenschaft auch bestatigt! - Wie lieb ist es manchen fuhrenden 
Theosophen, wenn sie hinweisen konnen, wie die Religionsforscher 
auch das bestatigen, was aus der geistigen Welt herausgekommen ist, 
und gar nicht beachten sie, daft gerade die ungeistige Art der Verglei- 
chung der religiosen Urkunden uberwunden werden sollte. Da be- 
riihrt sich zum Beispiel Theosophie sogar hart mit dem, was abster- 
bend war und zur Leugnung des historischen Jesus gefuhrt hat, und 
da ist sogar eine gewisse Verwandtschaft mit diesen Dingen vorhan- 
den. Ursprtinglich hat Theosophie den historischen Jesus auch nur 
gelten lassen wie die anderen Religionsstifter. Es ist der Blavatsky 
nicht eingefallen, den historischen Jesus zu leugnen. Sie hat ihn zwar 
in der Zeit um hundert Jahre hinausgeschoben, was allerdings ein 
Irrtum ist, sie hat ihn also nicht geleugnet, aber sie hat auch das We- 
sen des Christus Jesus nicht erkannt. Sie hat zwar die Anregung ge- 
geben, daft in der von ihr eingeleiteten Bewegung das Wesen des 
Christus einmal erkannt werden kann, hat es aber selbst nicht tun 
konnen. Da beriihrt sich der erste Zustand der theosophischen Be- 



wegung hochst merkwiirdig mit dem, was die Leugner des histori- 
schen Jesus heute tun. 

So wird heute zum Beispiel von Professor Drews darauf hingewie- 
sen, dafi man die Vorgange, welche dem Ereignis von Golgatha vor- 
angehen, auch in der alten Gotter-Erklarung findet, so zum Beispiel 
in den Kulten des Adonis oder Tammuz. Da zeigt sich ein leidender 
Gottesheld, ein sterbender Gottesheld, ein auferstehender Gottes- 
held und so weiter. Es wird immer verglichen, was da und dort reli- 
giose Uberlieferung ist und dann wird geschlossen: Es wird euch er- 
zahlt von einem leidenden, sterbenden und auferstehenden Jesus von 
Nazareth, der der Christus war, aber ihr seht, dafi das die anderen 
Volker auch feierten an Adonis, an Tammuz und so weiter. Uberall 
wird hingewiesen auf die Ahnlichkeit dieser oder jener alten Gotter- 
figur mit dem, was in den Vorgangen von Palastina beschrieben 
wird. 

Das ist im weiten Umfange im Grunde auch in der theosophi- 
schen Bewegung getrieben worden. Man sieht gar nicht heute bei 
dieser Religionsvergleichung, dafi damit gar nichts gesagt ist, wenn 
man vergleicht Adonis oder Tammuz mit den Ereignissen von Pala- 
stina. Ich will Ihnen nur durch einen Vergleich einmal vor die Seele 
fuhren, wo der Irrtum einer solchen Religionsvergleichung liegt. 
Aufierlich kann sie absolut richtig sein, aber dennoch ist sie einem 
gewaltigen Irrtum unterworfen. Nehmen Sie an, es gibt eine Uni- 
form irgendeines Beamten, der, sagen wir, im Jahre 1910 lebte. Die 
Uniform, welche dieser Beamte im Jahre 1910 tragt, stellt zu glei- 
cher Zeit die auftere Art seiner Tatigkeit dar, seines Amtes. Und 
nehmen wir weiter an, im Jahre 1930 steckte ein anderer Mensch, 
der ganz anders ist, in derselben Uniform. Aber nicht auf die Uni- 
form, sondern auf die Individuality kommt es dabei an, wie ein 
Mensch seine Arbeit verrichtet. Jetzt aber denken wir uns, im Jahre 
2090 kame ein Geschichtsforscher, der etwa sagte: Es wird berich- 
tet, dafi es im Jahre 1910 einen Menschen gab, der diesen Rock, die- 
ses Beinkleid und diese Weste angehabt hat. Im Jahre 1930 aber sehe 
ich auch den gleichen Rock, dieselbe Weste und dieselben Beinklei- 
der, also sehen wir, dafi sich Rock, Beinkleid und Weste fortge- 



pflanzt haben, und daft wir beide Male eigentlich dasselbe Wesen vor 
uns haben! 

Ein solcher Schluft ist naturlich toricht. Aber es ist nicht geschei- 
ter, wenn man sagt: Wir nehmen die vorderasiatischen Religionen 
und sehen da, wie in Adonis oder Tammuz Leiden, Sterben und 
Auferstehung dargestellt wird; dasselbe finden wir beim Christus 
auch! - Darauf kommt es aber nicht an, daft Leiden, Sterben und 
Auferstehen dargestellt wird, sondern darauf, wer auferstanden ist! 
Leiden, Tod und Auferstehung ist die Uniform in der weltgeschicht- 
lichen Entwickelung, und wir diirfen nicht auf die Uniform, die uns 
in den Legenden entgegentritt, hinweisen, sondern auf die Individua- 
litaten, welche darinnenstecken. Gewift haben sich die Individualita- 
ten, damit die Menschen sie begreifen, in derselben Weise gezeigt, 
haben sozusagen «Christus-Taten» vollbracht, welche zeigen sollten: 
Er kann auch die Taten verrichten, die einmal ein Tammuz zum Bei- 
spiel hat. - Aber es war immer eine andere Wesenheit hinter diesen 
Taten. Daher ist alle Religionsvergleichung, daft zum Beispiel die 
Siegfried-Gestalt ubereinstimmt mit der Baldur-Gestalt, die Baldur- 
Gestalt mit der Tammuz-Gestalt und so weiter, nur ein Zeichen da- 
fur, daft gewisse Formen der Legenden und Mythen bei diesen und 
jenen Volkern vorkommen. Das ist nicht mehr wert, als wenn man, 
um die Menschen kennenzulernen, zeigen wurde, wie sich eine be- 
stimmte Uniformgattung bei einem bestimmten Amte wiederfindet. 
Das ist der fundamentale Irrtum, der uberall grassiert und der zum 
Beispiel auch in der theosophischen Bewegung grassieren kann, und 
der nichts anderes ist, als eine Konsequenz materialistischer Denk- 
gewohnheiten. 

Nur dann wird das Testament der Blavatsky erfullt werden, wenn 
die theosophische Bewegung fahig ist, das Leben des Geistes in sich 
zu pflegen und zu bewahren, wenn auf den Geist gesehen wird, der 
sich nicht durch Biicher, die jemand geschrieben hat, sondern durch 
das lebendige Leben immerfort zeigt. Geist soil bei uns gepflegt wer- 
den. Nicht Biicher wollen wir bloft studieren, die vor Jahrhunderten 
geschrieben worden sind, sondern lebendig fortentwickeln, was uns 
als Geist gegeben ist. Und wir wollen etwas sein wie eine Vereini- 



gung von Menschen, die nicht blofi glauben an Biicher und Men- 
schen, sondern an den lebendigen Geist, und die nicht blofi davon 
sprechen, dafi H. P. Blavatsky abgegangen ist vom physischen Plan 
und nach ihrem Tode weiter lebt, sondern die so weit lebendig glau- 
ben an das, was durch die Theosophie offenbart worden ist, dafi sie 
selbst durch ihre eigene Wesenheit auf dem physischen Plan kein 
Hemmnis sein konnen fur das iibersinnliche Fortwirken des Geistes 
der Blavatsky. Nur dann werden wir der theosopMsehen Bewegung 
etwas sein, wenn wir so denken iiber H. P. Blavatsky, und nur dann 
wird H. P. Blavatsky etwas sein konnen fur die theosophische Bewe- 
gung, wenn solche Menschen auf Erden existieren, die so denken 
konnen. Aber dazu ist notwendig, dafi weiter geistig geforscht wird, 
und dafi man vor alien Dingen glaubt an das, was besonders in dem 
letzten offentlichen Vortrag erwahnt worden ist: dafi die Mensch- 
heit im Fortschreiten begriffen ist, und daft wirklich so etwas in die 
Geschichte eingetreten ist zur Zeit des Christus Jesus wie das Gewis- 
sen, und dafi solche Dinge entstehen und eine Bedeutung haben fur 
die ganze Entwickelung. Das Gewissen ist etwas, was zu einem be- 
stimmten Zeitpunkt eingetreten ist. Das Gewissen war friiher etwas 
anderes, und es wird wieder etwas anderes werden, nachdem die 
Menschenseelen im Lichte des Gewissens sich eine Weile entwickelt 
haben werden. Wie das Gewissen sich verandern wird in der Zu- 
kunft, darauf haben wir auch schon hingewiesen. 

Parallel gehen wird mit dem Auftreten des Ereignisses von Damas- 
kus bei einer grofien Anzahl Menschen im Laufe des 20. Jahrhun- 
derts so etwas, daft die Menschen lernen werden, wenn sie irgendei- 
ne Tat im Leben getan haben, aufzuschauen von dieser Tat. Sie wer- 
den bedachtiger werden, werden ein innerliches Bild haben von der 
Tat - zunachst wenige, dann immer mehr und mehr im Laufe der 
nachsten zwei bis drei Jahrtausende. Nachdem die Menschen etwas 
getan haben werden, wird das Bild da sein. Sie werden zunachst 
nicht wissen, was das ist. Die aber Geisteswissenschaft kennenge- 
lernt haben, werden sich sagen: Hier habe ich ein Bild! Das ist kein 
Traum, gar kein Traum, es ist ein Bild dessen, was mir die karmische 
Erfiillung dieser Tat zeigt, die ich eben getan habe. Das wird einmal 



geschehen als Erfiillung, als karmischer Ausgleich dessen, was ich 
eben getan habe! - Das wird im 20. Jahrhundert beginnen. Da wird 
sich fur den Menschen hinzuentwickeln die Fahigkeit, dafi er ein 
Bild hat von einer ganz fernen, noch nicht geschehenen Tat. Das 
wird sich zeigen als ein inneres Gegenbild seiner Tat, als die kar- 
mische Erfiillung, die einmal eintreten wird. Der Mensch wird 
sich dann sagen: Jetzt habe ich dies getan. Nun wird mir gezeigt, 
was ich zum Ausgleich tun mufi, und was mich immer zuriickhal- 
ten wiirde in der Vervollkommnung, wenn ich den Ausgleich 
nicht vollbringen wiirde. — Da wird Karma nicht eine blofie 
Theorie mehr sein, sondern es wird dieses charakterisierte innere 
Bild erfahren werden. 

Solche Fahigkeiten treten nach und nach immer mehr auf. Neue 
Fahigkeiten entwickeln sich, aber die alten Fahigkeiten sind die Kei- 
me fiir die neuen. Wovon werden es denn die Menschen haben, dafi 
sich das karmische Bild zeigen wird? Davon werden sie es haben, dafi 
die Seele eine gewisse Zeit im Lichte des Gewissens gestanden hat! 
Das ist ja das Wichtige fiir die Seele: nicht dafi dieses oder jenes aufie- 
re Physische erlebt wird, sondern dafi die Seele dadurch vollkomme- 
ner wird. Durch das Gewissen bereitet sich die Seele zu demjenigen 
vor, was jetzt charakterisiert worden ist. Und je mehr die Menschen 
gegangen sein werden durch Inkarnationen, wo sie besonders das 
Gewissen ausgebildet haben, je mehr sie dieses Gewissen in sich pfle- 
gen werden, desto mehr werden sie tun, um jene hohere Fahigkeit 
zu haben, die ihnen im geistigen Schauen selber jene Gottesstimme 
wieder vorfuhrt, welche die Menschen friiher einmal in anderer 
Weise gehabt haben. Aschylos stellte noch einen solchen Orest dar, 
der vor sich hatte, was seine schlimmen Taten bewirkten. Orest 
mufi noch ansehen, wie die Wirkung seiner Taten in die Aufienwelt 
hinausgestellt ist. Die neue Fahigkeit, welche sich fur die Seele ent- 
wickelt, ist eine solche, dafi der Mensch in Bildern sehen wird die 
Wirkung seiner Taten fur die Zukunft. Das ist das Neue. Die Ent- 
wickelung verlauft immer zyklisch, immer kreisformig, und was die 
Menschheit an dem alten Schauen besessen hat, das stellt sich in er- 
neuerter Weise auch wieder ein. 



So bereiten wir uns durch die Erkenntnisse der geistigen Welt vor, 
dafi wir wirklich in einer richtigen Weise in der nachsten Inkarna- 
tion aufwachen, und dadurch arbeiten wir auch in der Weise, dafi 
auch fur die Menschen, die unsere Nachkommen sind, im entspre- 
chenden Mafie gesorgt ist. Dadurch ist die Geistesforschung in ih- 
rem inneren Grunde eine unegoistische Richtung, weil sie nicht 
fragt, was dem einzelnen frommt, sondern wodurch der Fortschritt 
der ganzen Menschheit bewirkt wird. 

Wir haben nun zweimal gefragt: Was ist das Gewissen? Jetzt haben 
wir auch gefragt: Was wird aus dem Gewissen, das sich heute entwik- 
kelt? Wie stellt sich das Gewissen dar, wenn wir es betrachten als 
einen Samen in der Zeit, welche die Menschheit jetzt durchmacht? 
Was wird aus dem, was das Gewissen als Keim bewirkt? - Diese 
charakterisierten hoheren Fahigkeiten werden daraus! Das ist das 
Wichtige, dafi wir an die Entwickelung der Seele von Inkarnation zu 
Inkarnation, von Zeitalter zu Zeitalter glauben. Das lernen wir, in- 
dem wir das wirkliche Christentum verstehen lernen. Und da haben 
wir von Paulus noch sehr viel zu lernen. Sehen Sie sich bei alien 
orientalischen Religionen urn, auch beim Buddhismus, Sie finden die 
Lehre: Die auftere Welt ist Maja. - Gewift ist sie das, aber das wird 
im Orient als eine absolute Wahrheit hingestellt. Paulus weifi diese 
Wahrheit auch, sie ist wahrhaftig bei ihm geniigend betont. Aber et- 
was anderes ist bei Paulus noch betont, namlich dies: Wohl sieht der 
Mensch nicht Wahrheit, wenn er hinausschaut mit seinen Augen, er 
sieht nicht die Wirklichkeit, wenn er in das schaut, was draufien ist. 
Warum nicht? Weil er sich selbst bei seinem Herunterstieg in die 
Materie die aufiere Wirklichkeit zur Illusion umgegossen hat! Der 
Mensch ist es selbst, der die aufiere Welt durch seine Tat zur Illusion 
gemacht hat! Nennen Sie es nun mit der Bibel «Siindenfall» oder 
sonstwie, was bewirkt, dafi ihm die aufiere Welt jetzt als eine Illu- 
sion erscheint. Den «G6ttern» gibt die orientalische Religionslehre 
die Schuld, dafi dem Menschen die Welt als Maja erscheint. Schlag* 
an deine eigene Brust! - so sagt Paulus - , du bist heruntergestiegen 
und hast deine eigene Anschauung so getriibt, dafi Farbe und Ton 
nicht wirklich als ein Geistiges erscheinen. Du glaubst, dafi Farbe 



und Ton etwas ist, was materiell fur sich da ist? Maja ist es! Du hast 
es selbst zur Maja gemacht. Du Mensch, du mufit dich selbst davon 
wieder erlosen. Du mufit dir das, was du verwirkt hast, wieder aneig- 
nen! Du bist heruntergestiegen in die Materie, und jetzt mufit du 
dich selbst wieder davon erlosen, davon befreien, aber nicht in der 
Weise, wie es Buddha sagt: Bezwinge den Drang nach Dasein! Nein! 
du mufit das Dasein der Erde in ihrer Wirklichkeit sehen. Was du 
selber zur Maja gemacht hast, das raufit du wieder richtig machen in 
dir. Und das kannst du, indem du die Christus-Kraft in dich auf- 
nimmst, die dir die aufiere Welt in ihrer Wirklichkeit zeigt! 

Darin liegt ein grofter Impuls westlandischen Lebens, ein neuer 
Zug, und der ist noch lange nicht auf den einzelnen Gebieten durch- 
gefuhrt. Was weifi heute die Welt davon, dafi auf einem Gebiete so- 
gar versucht worden ist, sozusagen im Sinne des Paulus, eine Er- 
kenntnistheorie zu schaffen? Eine solche Erkenntnistheorie konnte 
nicht im kantischen Sinne sagen: Das Ding an sich ist etwas Unbe- 
greifliches - , sondern sie konnte nur sagen: Es liegt an dir, Mensch, 
du bewirkst durch das, was du jetzt bist, eine unrichtige Wirklich- 
keit. Du mufit selbst einen inneren Prozefi durchmachen. Dann ver- 
wandelt sich dir Maja in Wahrheit, in die geistige Wirklichkeit! - In 
diesem Sinne die Erkenntnistheorie auf paulinische Basis zu stellen, 
war die Aufgabe meiner beiden Schriften «Wahrheit und Wissen- 
schaft» und «Die Philosophic der Freiheit». Diese beiden Bucher 
stellen sich hinein in das, was die grofie Errungenschaft der paulini- 
schen Auffassung vom Menschen ist in der westlandischen Welt. Da- 
her sind diese Bucher auch so wenig verstanden worden, hochstens 
in einigen Kreisen, weil sie voraussetzen gerade die ganzen Impulse, 
welche in der Bewegung fur Geisteswissenschaft zum Ausdruck 
gekommen sind. Im Kleinsten mufi sich das Grofite zeigen! 

Durch solche Betrachtungen, die uns von unserer engen Mensch- 
lichkeit emporheben und uns zeigen, wie wir in unserer kleinen all- 
taglichen Arbeit ankmipfen konnen an das, was uns von Stufe zu 
Stufe, von Leben zu Leben immer mehr hineinfuhrt in das geistige 
Dasein, durch solche Betrachtungen werden wir zu rechten Theoso- 
phen. Und wir diirfen uns einer solchen Betrachtung gerade hinge- 



ben an einem Tage, der gewidmet ist einer Personlichkeit, die eine 
Anregung gegeben hat zu einer Bewegung, die immer weiter und 
weiter leben wird, die nicht fur einen Menschen eine graue Theorie 
bleiben soli, sondern die Lebenssaft in sich haben soli, damit der 
Baum immer von neuem griinen wird, den wir den Baum der theo- 
sophischen Weltanschauung nennen. 

Aus diesem Geiste heraus wollen wir es versuchen, uns geeignet zu 
machen, einen Boden zu bereiten in unserer Bewegung, der die Im- 
pulse der Blavatsky nicht hemmt und zuriickhalt, sondern zu immer 
weiterer Entfaltung fordert. 



HINWEISE 



2.ur Zusammenstellung der Vortrdge: Die hier vorliegenden sieben Vortrage sind ein kleiner 
Ausschnitt aus den vielen Vortragen, die Rudolf Steiner im Berliner Zweig durch viele Jahre 
hindurch gehalten hat, wenn er nicht auf Reisen gewesen ist. Er sprach wochentlich minde- 
stens einmal in diesem Arbeitskreis. Da diese sieben Vortrage noch zu Rudolf Steiners Leb- 
zeiten im Jahre 1921 als Manuskriptdruck (Zyklus 17) erschienen sind, ist diese Zusammen- 
stellung auch innerhalb der Gesamtausgabe beibehalten worden, obwohl chronologisch noch 
andere Vortrage dazwischen gehalten worden sind. Diese finden sich in dem Band «Die tiefe- 
ren Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117. 

Textgrundlagen: Die Vortrage wurden von dem Berliner Mitglied Walter Vegelahn mitsteno- 
graphiert. Dem Druck liegt die Ubertragung seines Stenogramms in Klartext zugrunde. Ein 
Originalstenogramm liegt jedoch nicht vor. Textkorrekturen gegenuber den friiheren Auf- 
lagen gehen auf teilweise vorliegende andere Nachschriften zuriick. 

Die in den Nachschriften stehenden Worte «Theosophie» und «theosophisch» wurden auf 
Grund einer Anweisung Rudolf Steiners durch die Ausdrucke «Anthroposophie» oder «Gei- 
steswissenschaft» ersetzt. Die Bezeichnung «Theosophie» gebrauchte Rudolf Steiner, weil er 
zur Zeit dieser Vortrage mit seiner anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft noch 
innerhalb der Theosophischen Gesellschaft lehrte, von der er sich einige Jahre spater jedoch 
getrennt hat. 

Der Titel des Bandes diirfte noch auf Rudolf Steiner zuriickgehen, wenngleich die Nach- 
schriften nicht von ihm selbst durchgesehen worden sind. 

Die Herausgabe der 3. Auflage besorgten Ruth Moering und Hella Wiesberger. 

Fiir die vorliegende 4. Auflage wurden die Inhaltsangaben und Hinweise erganzt. 

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der 
Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Ubersicht am Schlufi des Bandes. 

Zu Seite 

11 Heute, gelegentlich der Generahersammltmg: Am Tag zuvor, 24. Oktober 1909, hatte 
die 8. General versammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft 
stattgefunden, zu der immer viele Mitglieder von viberall her nach Berlin kamen; daher 
auch das Besondere des Vortragsthemas. 

in den Vortragen uber Anthroposophie: In «Anthroposophie, Psychosophie, Pneumato- 
sophie», GA Bibl.-Nr. 115. 

13 Dr. Carl Unger, 1878 - 1929, Ingenieur. Einer der bedeutendsten Vertreter der Anthro- 
posophie Rudolf Steiners in Deutschland. Unmittelbar vor Beginn seines offentlichen 
Vortrages in Niirnberg «Was ist Anthroposophie?* wurde er von einem geistig 
Umnachteten erschossen. Siehe seine «Gesammelten Schriften» I -III, Stuttgart 1964. 



13 was wit «reine Gedanken» nennen: Von Rudolf Steiner methodisch entwickelt in seiner 
«Philosophie der Freiheit» (1894), GA Bibl.-Nr. 4. 

14, 125, 127 Aschylos, urn 525-456 v. Chr. 

Euripides, 487-407 v. Chr. 

25 in dem zweiten Vortrag uber «Antbroposophie»: Vgl. zweiten Hinweis zu Seite 11. 

28 Orpheus: Vgl. auch Vortrag Berlin, 16. Januar 1911 in «Exkursein das Gebiet des Mar- 
kus-Evangeliums», GA Bibl.-Nr. 124. 

3 1 jene Wesenkeit, die n&ir als Jesus ivon Nazareth genauer geschildert haben: Rudolf Steiner 
bezieht sich bier offensichtlich auf die beiden Berliner Vortrage vom 11. und 18. 
Oktober 1909 in «Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der 
Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117. 

41 was in den offentlichen Vortrdgen gesagt worden ist, zum Beispiel uber den Zom: Berlin, 
21. Oktober 1909 in «Metamorphosen des Seelenlebens», GA Bibl.-Nr. 59. 

43 Wdhrend meiner langjdhrigen Erziehertatigkeit: Siehe Rudolf Steiner «Mean Lebens- 
gang» (1923 -25), GA Bibl.-Nr. 28. 

44 was uber die Mission der Andacht gesagt worden ist: Vortrag Berlin, 28. Oktober 1909 in 
«Metamorphosen des Seelenlebens», GA Bibl.-Nr. 59. 

46 Goethe-Zitat: Motto zum 2. Teil von «Dichtung und Wahrheit». 

57 bei einer unserer letzten Betrachtungen: Berlin, 2. November 1909 in «Die tieferen 
Geheimnisset&es'Menseriheitswerdens im Lichte der 'Evangelien», GA Bibl.-Nr. 117. 

70 Verkiindigung der Zehn Gebote: Moses, 2. Buch, 20, 1 - 17. 

71 Vortrag uber die Zehn Gebote des Moses, am 16. November 1908: In «Geisteswissen- 
schaftliche Menschenkunde», GA Bibl.-Nr. 107. 

76 Tacitus von den Christen: Annalen XV, 44. 

82 althebrdische Geheinilehre (Namen Salomos): Siehe Schir I, 1 (ed. Wilna 1887). 

96 Schabbathai Zewi, 1626-1675. Siehe J. Kastein, «Sabbatai Zewi, der Messias von 
Ismir», 1930. 

97 Dann wird es sich zeigen, ob die Theosophen die Theosophie richtig verstanden haben wer- 
den: Diese Bemerkung bezidht sich auf den damals von Annie Besant und C.W. Lead- 
beater gerade hegriindeten Orden «Stern des Ostens», der dann .den laderknaben 
Krishnamurti zum Trager des wiederverkorperten Christus proklamierte, was von 
Rudolf Steiner abgelehnt werden mufite. Es fiihrte dies im weiteren zu seiner Tren- 
nung von der Theosophischen Gesellschaft. 

100 auf dieses Ghristus-Ereignis werden . . . andere folgen: Naheres dariiber findet sich in den 
Vortragen des Bandes «Das esoterische Christentum und die geistige Fiihrung der 
Menschheit», GA Bibl.-Nr. 131. 

101 Vortrdge uber das Johannes-Evangelium, wie sie zuletzt in Stockholm gehalten worden 
sind: Von diesen im Januar 1910 gehaltenen elf Vortragen existieren nur fur den Druck 
unzureichende Notizen. 



114 Im Jahre 1906 wdhrend des Kongresses in Paris: In dem Band «Kosmogonie», GA BibL- 
.Nr. 94. 

117 der Halleyscbe Komef Benannt nach dem englischen Astronomen Edmund Halley 
(1656-1742). Er beobachtete 1682 diesen Kometen, dessen Wiederkehr er fiir 1759 
vorausberechnete, und der 1835 und 1910 erneut in die Erdatmosphare eintrat. 

die Goethe so verspottet hat in «Dichtung und Wahrheiu: Im 3. Teil, 11. Buch, Seite 57 
der Herausgabe in der Deutschen Nationalliteratur, 100. Bd., Goethes Werke XIX. 

Paul Heinrich Dietrich Freiherr von Holbacb, 1723 - 1789, franzosischer Schriftsteller 
deutscher Abkunft. 

122 JEs wird nun spdteren Vortrdgen uberlassen bleiben mussen . . . zurikkzukommen auf die 
Geheimnisse des Matthdus-Evangeliums, um dann hineinzusteigen in die Tiefen des Mar- 
kus-Evangelutms: Mur wenige Monate spater hielt Rudolf Steiner in Bern einen ganzen 
Zyklus von Vortragen uber das «Matthaus-EvangeIium», GA Bibl.-Nr. 123, und im 
Jahre 1912 in Basel liber das «Markus-Evangelium», GA Bibl.-Nr. 139. 

den qffentlkhen Vortrag uber das menschliche Gewissen: Berlin, 5. Mai 1910 in «Meta- 
morphosen des Seelenlebens*, GA Bibl.-Nr. 59. 
127 William Shakespeare, 1564- 1616. Vgl. Vortrag Dornach, 24. Februar 1922 in «Alte 
und neue Einweihungsmethoden», GA Bibl.-Nr. 210. 

132 Leonardo da Vinci, 1452-1519. Raffael Santi, 1483-1520. Vgl. «Kunstgeschichte als 
Abbild innerer geistiger Impulse*, GA Bibl.-Nr. 292 (Textband und Bildband). 

137 «Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt...»: Homer, Odyssee, XI. Gesang, Vers 
488 - 491. 

137f. Empedokles. . . als ich vor einigen Wochen unseren Palermoer Freunden uber ihren Empe- 
dokles ... dasselbe sagen honnte, was ich Ihnenjetzt sagte: Mitte April 1910 hielt Rudolf 
Steiner in Palermo Vortrage. Von dem Vortrag uber Empedokles gibt es keine Nach- 
schrift. 

141 am 8. Mai . . . unseren Gedenktag begehen: Vgl. den folgenden Vortrag, der im Gedenken 
des Todestages der Griinderin der Theosophischen Gesellschaft, H.P. Biavatsky, die 
am 8. Mai 1891 gestorben ist, gehalten wurde. 

142 ojfentlicher Vortrag am ndchsten Donnerstag: Vgl. den 2. Hinweis zu Seite 122. 

143 H.P. Biavatsky: Helena Petrowna Biavatsky (Jekaterinoslav, Sudrufiland 1831-1891 
London) griindete mit H. S. Olcott am 17. November 1875 in New York die Theoso- 
phische Gesellschaft, die ihr Zentrum bald darauf nach Indien (Adyar/Madras) verleg- 
te. Siehe «Die okkulte Bewegung im 19. Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkul- 
tur», GA Bibl.-Nr. 254, sowie «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposo- 
phischen Bewegung im Verhaltnis zur Anthroposophischen Gesellschaft*, GA Bibl.- 
Nr. 258. 

147ff. Arthur Drews, 1865-1-935. «Die Christus-Mythe», 1909. Zur Zeit der Vortrage 
erschien eine vefbesserte und erweiterte Auflage (10. und 11. Tsd.) Jena 1910. Siehe 

1. Teil: Der christliche Jesus. I. Der paulinische Jesus, und 2. Teil: Das Zeugnis des 
Paulus. Der Vortrag «Hat Jesus gelebt?» erschien unter dem Titel «Berliner Religions- 
gesprach. Hat Jesus gelebt? Reden uber die Christus-Mythe, gehalten am 31. 1. und 1. 

2. 1910 von A. Drews u.a.», Berlin und Leipzig 1910. 



151 Paulus-Zitat: 1. Korinther, 15, 14. 

153 nacbdem die theosophische Bewegung bereits dreiftig Jahre in der Welt ist: Vgl. Hinweis zu 
Seite 143. 

158 H. S. Olcott, 1832-1907, vgl. Hinweis zu Seite 143. 

in der Zeit um hundert Jahre hinausgeschoben: Vgl. hieriiber «Das Matthaus-Evange- 
lium», GA Bibl.-Nr. 123. 

161 in dem letzten offentlichen Vortrag: Vgl. 2. Hinweise zu Seite 122. 

164 In diesem Sinne die Erkenntnistheorie attf die paulinische Basis zu stellen: Rudolf Steiner 
basiert hier offensichtlich auf der Paulus-Stelle im 1. Korintherbrief, 8,2, die in der von 
ihm benutzten Ubersetzung von Carl Weizsacker, Tubingen 1904, lautet: «Diinkt sich 
einer etwas erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen mufi». 



UBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN 



Aus Rudolf Steiners Autobiographic 
«Mein Lebensgang» (35. Kap., 1925) 

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse 
vor; erstens meine vor aller Welt veroffentlichten Biicher, zweitens eine 
grofie Reihe von Kursen, die zunachst als Privatdruck gedacht und 
verkauflich nur an Mitglieder der Theosophischen (spater Anthroposo- 
phischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei 
den Vortragen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die - 
wegen mangelnder Zeit — nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir 
ware es am liebsten gewesen, wenn miindlich gesprochenes Wort miind- 
lich gesprochenes Wort geblieben ware. Aber die Mitglieder wollten den 
Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hatte ich Zeit gehabt, 
die Dinge zu korrigieren, so hatte vom Anfange an die Einschrankung 
«Nur fiir Mitglieder» nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr 
als einem Jahre ja fallen gelassen. 

Hier in meinem «Lebensgang» ist notwendig, vor allem zu sagen, wie 
sich die beiden: meine veroffentlichten Biicher und diese Privatdrucke 
in das einfiigen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete. 

Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten fiir das Hinstellen der 
Anthroposophie vor das Bewuiksein der gegenwartigen Zeit verfolgen 
will, der mufi das anhand der allgemein veroffentlichten Schriften tun. In 
ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnis- 
streben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in 
«geistigem Schauen» immer mehr gestaltete, was zum Gebaude der 
Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art - 
wurde. 

Neben diese Forderung, die «Anthroposophie» aufzubauen und dabei 
nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der 
Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu iibergeben hat, 
trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der 
Mitgliedschaft heraus als Seelenbedurfnis, als Geistessehnsucht sich 
offenbarte. 

Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien und 
den Schrift-Inhalt der Bibel iiberhaupt in dem Lichte dargestellt zu 



horen, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in 
Kursen iiber diese der Menschheit gegebenen Offenbarungen horen. 

Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehalten 
wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vortragen waren nur 
Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposo- 
phie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorge- 
schrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser 
internen Vortrage war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein 
konnte, die ganz fur die Offentlichkeit bestimmt waren. 

Ich durfte in internen Kreisen in einer Art iiber Dinge sprechen, die 
ich fur die offentliche Darstellung, wenn sie fur sie von Anfang an 
bestimmt gewesen waren, hatte anders gestalten miissen. 

So liegt in der Zweiheit, den offentlichen und den privaten Schriften, 
in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergriinden stammt. 
Die ganz offentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang 
und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft 
mit. Ich ho re auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, 
und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich hore, entsteht 
die Haltung der Vortrage. 

Es ist nirgends auch nur in geringstem Mafie etwas gesagt, was nicht 
reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie ware. Von 
irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mit- 
gliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann 
sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen 
hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach 
dieser Richtung zu drangend wurden, von der Einrichtung abgegangen 
werden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es 
wird eben nur hingenommen werden miissen, dafi in den von mir nicht 
nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet. 

Ein Urteil iiber den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja aller- 
dings nur demjenigen zugestanden werden konnen, der kennt, was als 
Urteils-Voraussetzung angenommen wird. Und das ist fur die allermei- 
sten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des 
Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie 
dargestellt wird, und dessen, was als « anthroposophische Geschichte» in 
den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.